Unsere vernetzte Welt verstehen
Working from Home but Never Alone: Warum People Analytics die Perspektive der Beschäftigten einbeziehen muss
Fernarbeit fordert Führungskräfte, Mitarbeiter*innen und Betriebsräte gleichermaßen heraus. People Analytics kann bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen – das gilt jedoch nur, wenn bei Gestaltung und Einsatz der Software das Wohlbefinden und die Privatsphäre der Beschäftigten berücksichtigt wird.
Ein Artikel von Sonja Köhne und Miriam Klöpper.
Das vergangene Jahr war mit deutlichen Veränderungen unseres Alltags verbunden. Insbesondere die Art und Weise, wie wir unser Arbeitsleben organisieren, wandelte sich grundlegend: Ende März 2020 arbeiteten erstmals rund ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland von zu Hause aus. Die Ermöglichung von Arbeit aus den eigenen vier Wänden wurde schnell zu einer politischen Frage. Ein zentrales Thema in der daraus entstehenden öffentlichen Debatte um ein Recht auf Homeoffice sind die Arbeitsbedingungen von Beschäftigten. Da Kommunikation ausschließlich auf digitalem Wege und ohne traditionelle Aufsicht stattfindet, müssen sowohl Arbeitgeber*innen als auch Beschäftigte ihre Arbeitsabläufe neu denken. Sogenannte People Analytics Anwendungen ermöglichen einen datengetriebenen Ansatz für das Personalmanagement. Sie versprechen Entscheidungen, die die Beschäftigten betreffen, zu optimieren und Führung – auch aus der Ferne – zu erleichtern. Allerdings sind diese Anwendungen als solche kein Allheilmittel, um den in Fernarbeit entstehenden Verlust von sozialen Kontakten und persönlichem Austausch zu kompensieren. Sie müssen sorgfältig und überlegt gestaltet und eingesetzt werden. So entsteht, angetrieben durch die Pandemie, neuer Handlungsbedarf und damit die Notwendigkeit einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Potenzialen und Herausforderungen von Fernarbeit.
Herausforderungen von Fernarbeit
Taskin und Devos (2005) identifizieren drei spezifische Spannungen, die durch die Enträumlichung bei der Fernarbeit entstehen. Erstens die Intensivierung der Arbeit, bei der Spannungen zwischen beruflichen und privaten Zeiträumen entstehen. So scheint der Abbau von arbeitsbedingtem Stress durch die Entscheidung für Fernarbeit den Stresspegel im Privatleben zu erhöhen. Zweitens die soziale Isolation, die sich – trotz hoher Autonomie bei der Fernarbeit – negativ auf das Engagement und die Identifikation mit dem Unternehmen auswirkt und damit die Arbeitsleistung negativ beeinflussen kann. Drittens die so genannte Do-it-yourself-Regel, die umfangreiche Kontroll- und Überwachungsmethoden beschreibt, die im starken Kontrast zu dem oft behaupteten Selbstverwaltung der Beschäftigten im Homeoffice stehen. Die Herausforderungen bei der Aufsicht und Führung von Fernarbeiter*innen und das Spannungsfeld zwischen Autonomie und Kontrolle dominieren den bisherigen Forschungsstand zur Fernarbeit stark.
Fragen der Macht und Kontrolle
Im Linked Personnel Panel 2016/17 in Deutschland nannten zwei Drittel der Beschäftigten, die nie von zu Hause aus arbeiteten, den Wunsch ihrer Vorgesetzten nach Anwesenheit als Grund dafür. Ebenso begründete jedes zehnte Unternehmen, das kein Homeoffice anbot, dies mit Schwierigkeiten bei der Führung und Kontrolle. Die räumliche Trennung von Vorgesetzten und Angestellten bei der Fernarbeit geht daher Hand in Hand mit Fragen der Macht und Kontrolle. Vorgesetzte sehen sich einem großen Kontrollverlust ausgesetzt, wenn sich Angestellte plötzlich außerhalb ihrer räumlichen Reichweite bewegen. Informationsasymmetrie ist in der Fernarbeit hoch, sodass es schwer nachvollziehbar ist, ob Angestellte oder KollegInnen gerade besonders fleißig oder engagiert sind. Aufgrund der räumlichen Trennung sind die entstandenen Arbeitsergebnisse eine der wenigen Möglichkeiten für Vorgesetzte, ihre Beschäftigten zu bewerten. Die erhöhte Autonomie der Angestellten gegenüber ihren Vorgesetzten in der Fernbeit schmälert die Rolle der Vorgesetzten in Bezug auf die beruflichen Belange ihrer Angestellten.
Hinwendung zur Technologie
Zur Kompensation des Kontrollverlustes können Arbeitgeber*innen auf technische Möglichkeiten zurückgreifen. Während diese Technologien zwar in Deutschland bislang noch keine vorherrschende Verwendung finden, werden sie doch immer leistungsfähiger. Dennoch mangelt es in der Theorie bislang häufig an einem tiefgreifenden Verständnis davon, wie sich diese auf Führungsdynamiken auswirken. Obwohl der Einsatz von Kommunikationstechnologien Fernarbeiter*innen ein Gefühl von erhöhter Autonomie vermittelt, entstehen gleichzeitig neue Zwänge in einem Umfeld, in dem sie sich zuvor der Kontrolle des Unternehmens entziehen konnten. Diese digitalen Technologien werden von den beteiligten Akteur*innen nicht als rein technisch sondern als sozial verstanden und damit als repräsentativ für eine “Gesellschaft der Kontrolle”. In diesem Sinne hat die neu gewonnene räumliche Flexibilität des Homeoffice einen Preis: Beschäftigte müssen fortan verschiedenen Formen der Kontrolle navigieren. Dabei ermöglichen diese Technologien den Vorgesetzten das Eindringen in häusliche oder private Räume. Dadurch verändert Fernarbeit die Führungsfunktion in Bezug auf Rollen, Erwartungen und Beziehungen. Im Homeoffice verschwindet die Kontrolle durch das Unternehmen jedoch keineswegs, sondern wird lediglich “impliziter, politischer, sozialer, sogar kultureller”. Neben dem verstärkten Einsatz von Kommunikationstechnologien wächst derzeit auch die Debatte um People Analytics Tools, die Führungskräften versprechen, den Verlust von Kontrolle und Einfluss bei der Fernarbeit auszugleichen.
People Analytics kurz erklärt
Tursunbayeva et al. definieren People Analytics als “einen Bereich der HRM-Praxis, -Forschung und -Innovation, der sich mit dem Einsatz von Informationstechnologien, deskriptiver und prädiktiver Datenanalyse und Visualisierungstools befasst, um verwertbare Erkenntnisse über Dynamiken in der Belegschaft, das Humankapital sowie die Leistung von Einzelpersonen und Teams zu gewinnen, die strategisch genutzt werden können, um die Effektivität, Effizienz und Ergebnisse der Organisation zu optimieren und die Erfahrungen der Beschäftigten zu verbessern” (aus dem Englischen übersetzt). People Analytics Anwendungen sind demnach darauf ausgelegt, von Beschäftigten generierte Daten zu erfassen und auszuwerten. Inzwischen bestehen eine ganze Reihe unterschiedlicher Tools, die Daten wie etwa die Nutzungsdauer einzelner Anwendungen, den E-Mail-Verkehr, die Anzahl der abgehaltenen Meetings, aber auch persönliche Angaben wie Alter, Geschlecht und die Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz analysieren. Ziel dieser Anwendungen ist es, HR-Kernaufgaben mit einem datengetriebenen Ansatz zu unterstützen, indem sie z. B. Analysen und Vorhersagen zum Potenzial oder Verhalten von Beschäftigten treffen, Schulungsbedarf identifizieren oder Fluktuation vorhersagen. People Analytics muss nicht zwingend algorithmische Entscheidungen enthalten, sondern kann auch rein deskriptiv bleiben. Aktuell sind diese Anwendungen Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte. Eine der bekanntesten People Analytics Softwares, Microsoft Workplace Analytics, geriet Ende 2020 in die Schlagzeilen, weil ein Produktivitäts-Score in die Anwendung integriert wurde. Microsoft reagierte schnell auf die öffentliche Kritik und ermöglicht es Arbeitgeber*innen inzwischen nicht mehr, die Scores einzelner Beschäftigter einzusehen. In Deutschland sorgte der Einsatz des People Analytics Tools Zonar bei Zalando für Aufsehen: Angestellte des Modehändlers wurden mit der Anwendung von ihren Kolleg*innen bewertet und eingestuft – wie Produkte in einem Online-Shop. Dies führte zu einem erhöhten Stresslevel unter den Arbeitnehmer*innen.
Führung auf Distanz mit People Analytics
Wie oben erwähnt erzeugt Fernarbeit einen neuen Bedarf an Technologien, die die Aufsicht und Kontrolle von Beschäftigten in verteilten Teams ermöglichen. People Analytics Anwendungen scheinen daher eine naheliegende Option zu sein, um die Produktivität von Fernarbeiter*innen zu erfassen. Sie ermöglichen Vorgesetzten z. B. zu prüfen, ob ein Team die geplanten Arbeitsstunden geleistet hat. Die Möglichkeit, geleistete Arbeitsstunden eines Teams nachzuverfolgen, ist jedoch nicht nur für Vorgesetzte von Relevanz. Auch der Betriebsrat kann diese Daten verwenden, um etwa zu beurteilen, ob Beschäftigte ausreichend Pausen einlegen oder um zu verhindern, dass zu viele Überstunden geleistet werden. Denn für die Angestellten selbst kann die Einführung von Homeoffice mit einer höheren Erwartungshaltung an ihre Verfüg- und Erreichbarkeit verbunden sein, und so zu erhöhtem Leistungsdruck und anhaltender Mehrarbeit führen. People Analytics kann dabei das Wohlbefinden und Stresslevel der Beschäftigten erfassen und frühzeitige Warnungen hinsichtlich möglicher Risiken von Burn-out generieren. Diese Funktionen erscheinen insbesondere vor dem Hintergrund von Fernarbeit, bei der die persönliche Kommunikation ausbleibt, vorteilhaft. In der Präsenzarbeit hingegen kann ein Vorgesetzter einen Großteil dieser Informationen erfassen, indem sie oder er mit den Beschäftigten spricht oder sie bei der Ausführung von Aufgaben an ihren Schreibtischen sieht.
Die dunkle Seite von People Analytics
Neben den genannten Faktoren, die für den Einsatz von People Analytics in der Fernarbeit sprechen, gibt es verschiedene Gründe, die das Gegenteil nahelegen. Zunächst einmal läuft die Software Gefahr gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu verstoßen. People Analytics ermöglicht es Arbeitgeber*innen und Vorgesetzten, Einblicke in verschiedene Bereiche des Arbeitsalltags zu erhalten, die bisher den Beschäftigten selbst vorbehalten waren. Dadurch entsteht eine starke Asymmetrie bezüglich der Informationen, die Angestellten und Arbeitgeber*innen zur Verfügung stehen; in einigen Fällen haben Angestellte keine Möglichkeit zu überprüfen, welche Art von Daten und Informationen über sie gesammelt wird. Ein weiteres stichhaltiges Argument gegen den Einsatz von People Analytics ist, dass einige der gesammelten Daten genauso gut ausschließlich von den Angestellten selbst abgerufen werden können, ohne den Vorgesetzten zur Verfügung gestellt zu werden. Zum Beispiel kann eine Software die Angestellten daran erinnern, Pausen einzulegen, anstatt die Führungskraft zu alarmieren, die auf Basis dieser Information möglicherweise nicht einmal reagiert. Die Messung von Produktivität anhand der Anzahl von Telefonanrufen und E-Mails, wie es in einigen People Analytics Anwendungen aktuell vorgesehn ist, liefert häufig keine hilfreiche Angabe der tatsächlichen Produktivität einer Person. Im Gegenteil, dieser Ansatz kann dazu führen, dass Beschäftigte unnötige Anrufe tätigen oder sinnlose E-Mails schreiben, da sie unter dem Druck stehen, produktiv erscheinen zu müssen.
People Analytics und Betriebsräte
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stehen sowohl die Unternehmensführung als auch Betriebsräte vor neuen Herausforderungen und wichtigen Entscheidungen. Ob People Analytics Anwendungen den Interessen der Beschäftigten dienen, hängt davon ab, wie sie gestaltet und in die Praxis umgesetzt werden – die beteiligten Akteur*innen müssen letztendlich aussagekräftige Metriken definieren und in der Lage sein, fundierte Schlussfolgerungen aus den Daten zu ziehen. Wenn die Trainingsdaten eine Verzerrung aufweisen, wird diese voraussichtlich durch den Algorithmus aufrechterhalten und verstärkt. Ein vorausschauender Prozess ist bei der Auswahl und Implementierung eines People Analytics Tools ein wichtiger Schritt für den Schutz der Privatsphäre von Beschäftigten. Betriebsräte sollten daher zu jeder Zeit in den Prozess eingebunden werden, auch in der frühen Phase der Auswahl eines Anbieters. Dennoch kann es sich selbst für die engagiertesten Betriebsräte als schwierig erweisen, People Analytics und die vielfältigen Auswirkungen, die diese Anwendungen auf die Beschäftigten haben (können), umfassend zu bewerten. Die allgemeine Notwendigkeit, digitale Technologien – mit Schwerpunkt auf Kommunikationstechnologien – zu verstehen und zu nutzen, ist im vergangenen Jahr gestiegen. Daher wurde auch das Angebot an Schulungsmöglichkeiten für Betriebsräte erweitert, z. B. seitens der Gewerkschaften. Die Teilnahme an Kursen, die es ermöglichen, ein Verständnis der Implikationen von algorithmengesteuerten Technologien wie People Analytics aufzubauen, ist dabei ein wichtiger erster Schritt. Da People Analytics Anwendungen jedoch teils als “Black-Box”-Systeme beschrieben werden, die äußerst komplex sind und Mechanismen beinhalten, die für Benutzer*innen nicht transparent sind, erfordern diese umfassendere Schulungen und Bildungsressourcen. Um herauszufinden, welche Werkzeuge und Lösungen in der Unterstützung von Betriebsräten besonders hilfreich sind, beteiligen wir uns regelmäßig an Veranstaltungen mit dieser Zielgruppe und ermitteln so Bedürfnisse und aktuelle Wissensstände.
Ausblick
People Analytics Anwendungen bieten ein breites Spektrum an hilfreichen Funktionen. Ohne Richtlinien und konsequente Überwachung der Ergebnisse algorithmischer Entscheidungsfindung können diese jedoch schwerwiegende Probleme wie Diskriminierung verursachen. Die Transparenz dieser Systeme und der Art der Datenerfassung muss gewährleistet sein, damit Beschäftigte bei ihrer Nutzung informierte Entscheidungen treffen können. Betriebsräte müssen geschult und unterstützt werden, damit sie die vielschichtigen Auswirkungen dieser Anwendungen verstehen können. Sie spielen eine Schlüsselrolle beim Einsatz von People Analytics, da diese Systeme nach deutschem Recht nicht ohne vorherige individuelle Zustimmung der Beschäftigten oder einer abgeschlossenen Betriebsvereinbarung eingeführt und angewendet werden dürfen. Forschung zu den sozialen und ethischen Implikationen von People Analytics, insbesondere im Kontext von Fernarbeit, ist derzeit jedoch nicht ausreichend vorhanden. Das begrenzte Wissen in diesem Bereich erschwert es auch Betriebsräten und Beschäftigten, sich hinreichend über die Systeme informieren zu können. Weitere Forschung, die niederschwellige Informationen zu dieser Thematik liefert, ist daher dringend erforderlich.
Tl;dr
People Analytics hat das Potenzial, Beschäftigte im Homeoffice zu unterstützen und deren Autonomie zu stärken. Um Diskriminierung oder die Verletzung von Privatsphäre zu verhindern sind jedoch klare Regelungen kombiniert mit einer Beteiligung von Beschäftigten erforderlich. Betriebsräte sowie die Beschäftigten selbst müssen daher umfassend über die Folgen der Datenerhebung durch digitale Anwendungen und ihre eigenen Rechte in diesem Vorgang informiert werden.
Miriam Klöpper ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am FZI Forschungszentrum Informatik tätig. Sie interessiert sich für die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung, insbesondere im Kontext von Technologie am Arbeitsplatz, speziell (Predictive) People Analytics. Mehr über ihr Forschungsprojekt “Anonymous Predictive People Analytics – AnyPPA” erfahren Sie hier.
Miriam und Sonja waren Teilnehmer*innen des ersten Pop-Up Lab ‘Inclusive AI? The challenges of automated tools in HR‘ des AI & Society Labs.
Beteiligen Sie sich
Setzt Ihr Unternehmen People Analytics Anwendungen ein und Sie möchten Ihre Perspektive im Rahmen unserer Forschung teilen oder an einem Workshop teilnehmen? Schreiben Sie uns unter kloepper@fzi.de oder sonja.koehne@hiig.de und erfahren Sie mehr über Ihre Möglichkeiten, sich zu beteiligen!
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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