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Debunking Science Myths: Vorurteile über Wissenschaft und was wirklich dran ist
Wie vertrauensvoll steht die Gesellschaft der Wissenschaft gegenüber? Grundsätzlich zeigt sich ein positives Bild: Denn laut dem Wissenschaftsbarometer 2023 vertrauen 56% der Befragten in Forschung. Gleichzeitig gibt es auch Misstrauen gegenüber Forschungsergebnissen und Fragen zur Unabhängigkeit von Wissenschaftler*innen. Doch was steckt wirklich hinter den gängigsten Vorurteilen, mit denen sich Forscher*innen in ihrer Arbeit konfrontiert sehen? Wir beleuchten vier populäre Mythen und Missverständnisse: von der Abhängigkeit von Geldgebern über die Fehlerkultur bis hin zu einer ständig streitenden Berufsgruppe und chronischer Realitätsferne. Entdeckt, wie Wissenschaft wirklich funktioniert.
Mythos 1: Wissenschaftler*innen sind stark abhängig von ihren Geldgebern.
Mehr als die Hälfte der Befragten des Wissenschaftsbarometers nennt dies als Grund, der Wissenschaft zu misstrauen. Im Jahr 2020 betrug die tatsächliche Fördersumme für Forschung in Deutschland laut Bundesministerium für Bildung und Forschung 106,6 Milliarden Euro. Auch die EU hat mit Horizont Europa ein milliardenschweres Förderprogramm.
Wie kommen Forschende an die Gelder?
Hier ist zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung zu unterscheiden. Grundlagenforschung ist frei in der Themensetzung und wird vorwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert. Sie zielt darauf, unser grundlegendes Wissen über die Welt zu erweitern, ohne dass dabei ein unmittelbarer praktischer Nutzen im Vordergrund steht. Im Gegensatz dazu ist die angewandte Forschung darauf ausgerichtet, spezifische praktische Probleme zu lösen oder bestimmte Anwendungen zu entwickeln. Sie wird häufig aus sogenannten “Drittmitteln” finanziert. Diese werden in Ausschreibungsverfahren vergeben, in denen Forschungsgruppen um inhaltlich und zeitlich begrenzte Mittel konkurrieren. Bei der Drittmittelvergabe können politische oder wirtschaftliche Bedürfnisse eine Rolle dafür spielen, welche Forschungsthemen ausgeschrieben werden. Nichtsdestotrotz ist Wissenschaftsfreiheit und damit die freie Wahl von Forschungsthemen und -methoden ohne Einfluss oder Druck von außen nicht nur im Grundgesetz verankert, sondern auch Teil des Selbstverständnis von Forschenden. Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen hohen Grad an Wissenschaftsfreiheit.
Mythos 2: Wissenschaftler*innen machen häufig Fehler.
19% der Befragten des Wissenschaftsbarometers nehmen an, dass in der Forschung häufig Fehler passieren und misstrauen deshalb der Wissenschaft. Aber die Wissenschaft lebt grundsätzlich davon, dass Fehler gemacht werden.
Falsifizierbarkeit als Grundprinzip naturwissenschaftlicher Forschung
In der Wissenschaftsphilosophie bezeichnet Karl Popper die Falsifizierbarkeit, also die Möglichkeit, dass sich eine wissenschaftliche Theorie als falsch erweist, als ein Grundprinzip der Forschung. Seine Weltanschauung des kritischen Rationalismus besagt, dass Theorien nur dann wissenschaftlich sind, wenn sie widerlegt werden können. Und solange sie nicht widerlegt sind, müssen Annahmen geprüft werden: Durch empirische Belege, Befragungen. Dieses Verständnis gilt besonders für Naturwissenschaften. Qualitative Sozialforschung interpretiert Phänomene mit dem Ziel, sie umfassend zu verstehen.
Qualitätssicherung durch Peer-Review
Wenn zum Beispiel ein wissenschaftliches Experiment von Forscher*innen wiederholt und dabei die gleichen Ergebnisse erzielt werden, nennt man das eine Replikation. Doch gerade in der Psychologie und der Biomedizin ist es oft schwierig, die gleichen Ergebnisse zu wiederholen. Diese Problematik wird als Replikationskrise bezeichnet und ist eine prominente wissenschaftsinterne Debatte zur Fehlerkultur. Replikation ist dabei ein Kriterium, um zu überprüfen, wie verlässlich Forschungsergebnisse sind. Hier geht es vor allem um die Frage der Nachvollziehbarkeit – also darum, genau zu verstehen, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Diese und weitere Fragen zur methodischen Qualität werden vor allem im sogenannten Peer-Review-Verfahren gestellt. Hier begutachten andere Wissenschaftler*innen eine wissenschaftliche Arbeit vor Veröffentlichung, um sicherzustellen, ob die neuen Forschungsergebnisse verlässlich sind. Das heißt, die Qualität von Forschung wird ständig unter Forschenden selbst ausgehandelt und überprüft.
Mythos 3: Wissenschaftler*innen sind sich nicht einig.
Tatsächlich widersprechen sich Wissenschaftler*innen. Theorien und Ergebnisse werden immer kritisch diskutiert und zum Teil widerlegt. Besonders sichtbar wurde dies während der COVID-19-Pandemie als immer neue Erkenntnisse zu Unsicherheit führten. Grundsätzlich hilft die Diskussion über Unstimmigkeiten, um Phänomene umfassend zu begreifen.
Klimawandel: Konsensbildung und mediale Wahrnehmung
Uneinigkeit wird auch in Debatten um den Klimawandel wahrgenommen. Bis zu den 1990er Jahren gab es Forschende, die Zweifel am menschengemachten Klimawandel begründeten. Doch schon um die Jahrtausendwende bestritt keine wissenschaftliche Veröffentlichung zur Erderwärmung deren menschengemachte Ursache. Heute sind sich Klimawissenschaftler*innen einig, dass die Hauptursache des Klimawandels in menschlichen Aktivitäten liegt. Vereinzelte skeptische Stimmen kommen aus anderen Disziplinen. Konsens besteht in der Fachdisziplin also schon lange, aber warum kommt dieser nicht in der gesamten Gesellschaft an? Minderheitenmeinungen und besonders laute oder kontroverse Ansichten erhalten häufig unverhältnismäßig viel mediale Aufmerksamkeit. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild und der Eindruck von Uneinigkeit, obwohl eigentlich Konsens herrscht.
Mythos 4: Wissenschaftler*innen haben keinen Bezug zu realen Problemen.
Abgeschieden von der Welt in einem Elfenbeinturm – das ist seit den 1950er Jahren ein geläufiges Bild von Forschung und auch heute ist die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz aktuell. Zunehmend werden nicht nur fertige Ergebnisse, sondern auch der Forschungsprozess an sich öffentlich zugänglich gemacht.
Ist die Relevanz von Forschung messbar?
In Großbritannien müssen öffentlich geförderte Forschungsprojekte an Hochschulen in einem Evaluationsverfahren beschreiben, wie viele Menschen ihre Ergebnisse erreichen und wie wichtig diese für Wirtschaft, Kultur, öffentliche Dienstleistungen, Gesundheit, Umwelt oder die allgemeine Lebensqualität sind. Andere Ansätze wollen Relevanz durch mehr Beteiligung erreichen und beziehen Lai*innengruppen direkt in den Forschungsprozess ein. Die Bewertung der gesellschaftlichen Relevanz von Forschung bleibt schwer und ist stark davon abhängig, welchen Wissenschaftszweig man betrachtet. Ergebnisse aus der Makrosoziologie werden anders genutzt als aus der Mikrobiologie. Zum Beispiel kann die Entdeckung und Beschreibung eines Proteins erst Jahrzehnte später helfen, ein Medikament zu entwickeln. Und eine sozialwissenschaftliche Studie zur Polarisierung der Gesellschaft, die in einem Zeitungsartikel diskutiert wird, stößt vielleicht zunächst eine erste Diskussion an.
Wie geht es jetzt weiter?
Im Allgemeinen entstehen Mythen dann, wenn etwas unerklärlich ist. Auch die hier präsentierten gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Wissenschaft basieren auf unerklärlich scheinenden Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens und einem komplexen Wissenschaftssystem. Doch es lohnt sich, hinter die Mythen zu blicken und zu verstehen, wie Wissenschaft tatsächlich arbeitet und welchen wichtigen Beitrag sie für die Gesellschaft leistet. Die Entmystifizierung zeigt, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft trotz einiger Herausforderungen ein starkes Berufsethos besitzt, in dem ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Qualitätsbewusstsein verankert ist. Indem wir Wissenschaft und ihre Methoden besser verstehen, können wir auch fundiert über deren Rolle und Bedeutung für unsere Gesellschaft diskutieren.
Referenzen
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Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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