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Technik und Altern: Selbstbestimmter Leben mit digitalen Innovationen
Der Gesundheits- und Pflegesektor steht vor vielen Herausforderungen. Die Fragen sind umfangreich: Wie können Menschen zu deren Bedingungen, im eigenen Zuhause altern? Wie muss der Pflegenotstand angegangen werden? Wie sollen der demografische Wandel und sich ändernde Bedürfnisse berücksichtigt werden? Die Digitalisierung der Pflege kann hier wichtige Antworten für Herausforderungen im Bereich Technik und Altern liefern.
Lassen Sie uns einen Blick in den Alltag von Frida Müller wagen: Frida ist 86 Jahre alt und lebt in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Dort hat sie ihre eigene Wohnung. Sie erhält morgens Hilfe beim Anziehen und ihre Enkelin besucht sie an den Wochenenden. Mit zunehmendem Alter hat sie immer mehr Angst, zu stürzen, wenn sie spazieren geht oder Besorgungen macht. In solchen Situationen fürchtet sie, nicht schnell genug Hilfe zu bekommen. Die Pflegekräfte haben oft wenig Zeit, so dass Frida diese Sorgen häufig für sich behält. Sie zieht es vor, ihre Freund*innen und Familienangehörige nicht mit ihren Fragen zu belasten.
Um auf Herausforderungen wie diese auf systemischer Ebene angemessen reagieren zu können, müssen wir digitale Technologien und die Perspektiven älterer Menschen, ihrer Angehörigen, des Pflegepersonals und des Pflegesektors mit interdisziplinären Forschenden und verschiedenen Stakeholdern zusammenbringen. Zu den wichtigsten Fragen gehören: Gibt es digitale Lösungen, die Frida unterstützen könnten, wenn sie sich ängstlich und mit ihren Sorgen allein gelassen fühlt? Wie könnten diese Lösungen aussehen? Wie würde sie sie nutzen? Die Gestaltung eines umfassenden, interdisziplinären Forschungsumfeldes ist eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung und Erforschung digitaler Pflege- und Gesundheitstechnologien, die sich an die Menschen und ihr soziales Umfeld anpassen und sich auf die förderlichen und hinderlichen Faktoren für den Einsatz von Technologien in der Pflege und Betreuung älterer Personen konzentrieren. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Probleme im Bereich Technik und Altern sowie der Gesundheit in Zusammenhang der Digitalisierung in diesen Bereichen.
Es gibt zwei Hauptansätze, um sich diesen Themen zu nähern. Der erste betrifft die nutzerzentrierte Gestaltung digitaler Lösungen zur Entlastung der professionellen und informellen, familiären Pflegekräften. Der zweite ist das Konzept des Lernquartiers, das einen multidisziplinären Ansatz verfolgt und das Quartier als Raum begreift, in dem nutzerzentriertes Design umgesetzt, beobachtet und evaluiert werden kann. Vor diesem Hintergrund wurde die Initiative Digital Urban Center for Aging and Health | DUCAH ins Leben gerufen. Das DUCAH basiert auf den Prinzipien des nutzerzentrierten Designs und des Lernquartier-Ansatzes.
Aktuelle Debatten zu Technik und Altern
Die derzeitige Situation im Pflegesektor ist durch die Auswirkungen des demografischen Wandels, den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, ein hohes Maß an Regulierung und das Aufkommen neuer digitaler Technologien gekennzeichnet. Ältere Menschen und ihre Familien müssen schwierige Entscheidungen treffen, um ihr Wohlbefinden jetzt und in der Zukunft zu sichern. Hierzu gehört auch der Wunsch, so viel Unabhängigkeit wie möglich zu bewahren und in der eigenen Wohnung zu bleiben zu können. Für Familienangehörige kann es schwierig sein, diese Wünsche zu verwirklichen und die Verantwortung für die Pflege ihrer Angehörigen zu übernehmen. Der Umzug ins Pflegeheim oder die Beauftragung von Pflegediensten bringen ebenfalls ihre Herausforderungen mit sich.
Frida Müller wollte anfangs nur ungern in die Einrichtung für betreutes Wohnen umziehen, fühlte sich unwohl in der Abhängigkeit von Fremden oder konnte die finanzielle Belastung nur schwer bewältigen. Vor allem im Pflegesektor übernehmen die Beschäftigten ein hohes Arbeitspensum bei geringem Lohn, weil die Einrichtungen oft unterbesetzt sind, was sich auf die Qualität der Pflege auswirken kann. Frida Müller erhält zwar Hilfe, aber sie fühlt sich nicht ausreichend unterstützt. Weder das Pflegepersonal noch ihre Familie sind in der Lage, im Alltag für sie da zu sein, wenn sie eine Frage hat oder Zuspruch braucht. Dabei möchte Frida so selbstständig und selbstbestimmt wie möglich leben.
Herausforderungen digitaler Technologien im Pflegesektor
Der Pflegesektor wird mit dem Aufkommen neuer Technologien immer digitaler. Oftmals haben sich digitale Lösungen hier jedoch noch nicht als einsatzbereit erwiesen. Oft entsprechen sie weder den spezifischen Erwartungen der älteren Menschen noch passen sie in das Umfeld, in dem sie sich befinden. Ältere Menschen müssen sich an komplexe und unflexible technische Systeme anpassen, die zudem nicht in ihren Lebensalltag passen. Daraus ergeben sich verschiedene Probleme und Herausforderungen. Zum einen sind potentielle Nutzer*innen möglicherweise nicht in der Lage, ihre Lebensbedingungen so anzupassen, dass sie diese digitalen Lösungen nützen können. Sie nutzen die Technologie unsachgemäß oder versuchen, sie zu umgehen, um Probleme zu vermeiden, die eine Inanspruchnahme von Hilfe erforderlich machen würden. Somit kann die einzige Lösung der Umzug in ein Pflegeheim sein. Zum anderen sind die meisten Forschungsumgebungen in diesem Bereich ähnlich dysfunktional: Sie sind hochgradig künstlich und um die zu erforschenden Technologien herum aufgebaut, anstatt auf das gewünschte Ergebnis und die Menschen ausgerichtet zu sein. Sie ähneln daher eher Technologie-Demonstrationsräumen als dem Lebensumfeld, in dem sie schließlich eingesetzt werden sollen.
Um diese Herausforderungen zu meistern, müssen neue Formen der Zusammenarbeit geschaffen und mehr relevante Stakeholder in die Entwicklungsprozesse integriert werden. In in Zusammenarbeit der Bereiche (Alten-)pflege und Gesundheitswesen, Technologie, Stadtteilplanung, Quartiersentwicklung und Wohnungsbau können diese Probleme gemeinsam angegangen und sektorenübergreifende Lösungen entwickelt werden. Im Fall von Frida Müller könnte zum Beispiel ein Concierge-Service unterstützen, ohne ihre Selbstständigkeit einzuschränken. Katja Gast von der Diakonie Deutschland und Jürgen Albert von der Bundesärztekammer arbeiten im Rahmen des Digital Urban Center for Aging and Health an dieser Lösung: “Wir wollen mit unserem Concierge-Service ein Anker für die Menschen in ihren Quartieren zum Thema Gesundheit sein und sie befähigen, sich (digital) zu engagieren.”
Der Dienst könnte die Vermittlung digitaler Angebote und analoge Präventionstipps umfassen. Frida hätte eine Anlaufstelle, wenn sie eine Frage zu ihrer Gesundheit im Allgemeinen hat. Wenn eine digitale Beratung nicht ausreicht, könnte sie auch einen analogen Termin vereinbaren. Ein solcher Dienst muss den Bedürfnissen von Pflegeeinrichtungen, Wohnpartnern, Bewohner*innen und deren Angehörigen sowie Betreuer*innen gerecht werden.
Nutzerzentrierte Gestaltung digitaler Lösungen
Wie ältere Menschen Technologie wahrnehmen und nutzen, um so unabhängig wie möglich zu leben, hängt von ihrem persönlichen, sozialen, kognitiven und physischen Kontexten ab. Der oder die potenziell Nutzende einer Concierge-Lösung braucht ein gutes Sehvermögen, ein gutes Gehör, gute taktile Fähigkeiten, ein gutes Verständnis für digitale Technologien oder unterstützende FreundInnen oder Familienmitglieder, die ihm oder ihr helfen, sich an die Technologie zu gewöhnen. Fähigkeiten und Faktoren wie diese sind von Person zu Person sehr unterschiedlich und verändern sich mit der Zeit. Ältere Menschen dürfen nicht als homogene Gruppe von Akteuren betrachtet werden, nur weil sie gleich alt sind: Sie nutzen, verändern und entwickeln Technologien auf unterschiedliche Weise und aus vielen verschiedenen und möglicherweise widersprüchlichen Gründen. Während eine Person vielleicht begeistert ist, ein Concierge-Tool zu benutzen, aber die Benutzeroberfläche nicht richtig erkennen kann und eine Sprachsteuerung benötigen würde, braucht Frida Müller vielleicht nur jemanden, der sie ermutigt, es auszuprobieren. Dies wird von Merkel und Kucharski (2019) unterstützt, die argumentieren, dass es wichtig ist, ältere NutzerInnen in alle Phasen des Innovations- und Entwicklungsprozesses mit einzubeziehen. Die Beteiligten müssen sorgfältig abwägen, wie sie Technologien zur Unterstützung des Alterns an Ort und Stelle konzipieren, implementieren und anpassen können.
Das Unterstützungssystem mitdenken
Neben der Sichtweise der älteren Menschen müssen auch die Perspektiven und Bedürfnisse ihres Unterstützungssystems, ihrer Familien oder der professionellen Pflegekräfte berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass die eingeführte Technologie ein langfristiger Erfolg wird. Bei der Integration einer Concierge-Technologie zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens älterer Menschen müssen viele Schritte unternommen werden. Sie muss eingerichtet werden, sie muss (möglicherweise von einer Krankenkasse) bezahlt werden, sie muss der Person, die sie benutzt, erklärt werden, und diese Person muss ihren Nutzen erkennen, damit sie weiter damit arbeitet. Die Person, die die Hardware installiert, wird diese Anforderungen nicht erfüllen können. Stattdessen müssen Menschen, denen der oder die potenziell Concierge-Nutzende vertraut, wie AltenpflegerInnen oder Verwandte, in der Lage und bereit sein, Zeit und Mühe zu investieren.
Für den Breich Technologie und Altern bedeutet das somit, dass auch ihre Bedürfnisse und Prioritäten bei der Entwicklung einer digitalen Lösung berücksichtigt werden müssen. Es muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass Telecare-Systeme für die Person, die sich unterstützt fühlen soll, nicht wie eine aufgezwungene oder gar zwanghafte Maßnahme wirken (Bächle, 2020). Das Verständnis für die Bedürfnisse und die individuelle Kreativität bei der Anpassung der Systeme ist für die ethische Nutzung der digitalen und ferngesteuerten Pflege unerlässlich, und dieser Anpassungsprozess sollte unbedingt respektiert werden (Bächle, 2020). Bei der Entwicklung technologischer Produkte sollte immer die Kernfrage im Blick bleiben: Wie können ältere Menschen dabei unterstützt werden, so lange wie möglich ein unabhängiges, gesundes Leben zu führen? Dies muss Rahmenbedingungen und Strategien einschließen, die sich mit Menschen, Vorschriften, physischen Räumen, Beziehungen und den Überzeugungen und Einstellungen der Teilnehmenden befassen.
DUCAH – Das Lernquartier als Multidisziplinärer Lösungsansatz
Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang von Technik und Altern, der in den letzten Jahren in den Debatten an Bedeutung gewonnen hat, ist die Wichtigkeit von Mobilität und Nachbarschaft. Die Intensivierung der Arbeit an Smart Cities, Verkehr und digitaler Gesundheit erzeugt den Bedarf an Foren, in denen der Austausch und das gegenseitige Begreifen aller Ziele und Logiken erleichtert werden kann und in denen dann eine nachhaltige Zusammenarbeit und ein Co-Design stattfinden kann. Digitale Lösungen wie Smartwatch-Wearables mit Sturzerkennung veranschaulichen die Schnittstelle von Mobilität, Technologie und Gesundheit. Ein solches Gerät hat das Potenzial, ältere Menschen zu ermutigen, sich frei zu bewegen und sich sicher zu fühlen – in ihrer Wohnung, aber auch in ihrer Nachbarschaft. Das Digital Urban Center for Aging and Health | DUCAH wurde als Forum gegründet, um Akteure aus verschiedenen Bereichen zusammenzubringen und ein nachbarschaftliches Lernquartier zu schaffen. Dieses wird als zentraler Referenzort für einen strategischen, multidisziplinären Forschungsansatz dienen, da die Entwicklung von Lösungen für das Altern immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Im White Paper des DUCAH “Aging, Independent Living and Society” von Paul Jackson et al. (2021) wird das Lernquartier vorgestellt. Es basiert auf dem Begriff Living Lab, geht aber darüber hinaus. Das Konzept der Living Labs hat sich als Möglichkeit zur Erprobung von Anwendungen in einem bestehenden sozialen Umfeld durchgesetzt (Keyson et al., 2017) und wurde in so unterschiedlichen Bereichen wie Verkehrsmanagement oder im Kulturbereich angewendet.Living Labs sind “user-centered, open innovation ecosystems based on a systematic user co-creation approach, integrating research and innovation processes in real life communities and settings ” (European Network of Living Labs, n.d.). Das Lernquartier ist eine europäische Konzeption, die die Erprobung innovativer Konzepte erleichtern soll. In ihm kann die Anpassung von Technologien und Systemen an Menschen und ihre Bedürfnisse in einer realen Umgebung beobachtet und bewertet werden.
Bei der Bewertung sollten die Interoperabilität und die Zusammenarbeit in digitalen Ökosystemen sowie bewährte Verfahren für die digital unterstützte Pflegeorganisation und -versorgung berücksichtigt werden. Bietet ein Quartiers-Concierge die gewünschte Unterstützung im Alltag einer Person und wenn nicht, was sollte verändert werden? Wie nutzt eine ältere Person wie Frida Müller die Technologie zur Sturzerkennung und fühlt sie sich dadurch sicherer, wenn sie sich in ihrer Nachbarschaft bewegt? Fragen wie diese können im Lernquartier mit einem partizipativen Designansatz und multidisziplinären Teams aus Technologie-und Gesundheitsexpert*innen, Forscher*innen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, Wirtschaftswissenschaftler*innen sowie in Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträger*innen, Gemeindeverwaltungen, Technologieentwickler*innen, Pflegedienstleister*innen, Unternehmer*innen, Finanzgeber*innen und anderen Interessengruppen ganzheitlich untersucht werden. Gemeinsam können diese Personen und Organisationen an der Entwicklung und Erprobung digitaler Gesundheits- und Pflegelösungen arbeiten, die dazu beitragen, das bestehende soziale Umfeld für alle Generationen zu erhalten.
Literatur
Bächle, T. C. (2020). Narrative der digitalen Überwachung. In K. Hauptmann, M. Hennig, & H. Krah (eds.), Narrative der Überwachung. Typen; mediale Formen und Entwicklungen (pp. 225–253). Berlin: Peter Lang. Retrieved from https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/42776/9783631827475.pdf?sequence=1#page=227
Chrysikou, E., Rabnett, R., & Tziraki, C. (2016). Perspectives on the Role and Synergies of Architecture and Social and Built Environment in Enabling Active Healthy Aging. Journal of Aging Research, 2016. https://doi.org/10.1155/2016/6189349
European Network of Living Labs (n.d.). About Us. Retrieved from https://enoll.org/about-us/
Jackson, P., Schildhauer, T., Ulich, A., Pohle, J., & Jansen, S. A. (2021). Aging, Independent Living and Technology. Foundation for Internet and Society. https://doi.org/10.5281/zenodo.5026032
Keyson, D.V., Morrison, G.M., Baedeker, C., & Liedtke, C. (2017). Living Labs to Accelerate Innovation. In: D. Keyson, O. Guerra-Santin, & D. Lockton (eds.), Living Labs. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-33527-8_5
Merkel, S. & Kucharski, A. (2019). Participatory Design in Gerontechnology: a systematic literature review. The Gerontologist, 59(1), e16-e25. https://doi.org/10.1093/geront/gny034
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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