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Russische Online-Plattformen halten mit Amazon, Facebook und Co. mit
17 Januar 2024

Wie russische Online-Plattformen mit den globalen Giganten konkurrieren

US-amerikanische Online-Plattformen sind zu den wichtigsten Anbietern vieler Dienstleistungen in unserer globalisierten Welt geworden. Milliarden von Menschen aus Ländern der ganzen Welt nutzen täglich ihre Suchmaschinen, Buchungstools oder E-Commerce-Angebote. Aber eine Frage bleibt: Was braucht es, damit Online-Plattformen auch außerhalb der USA entstehen und sich erfolgreich entwickeln können? In diesem Artikel fasse ich unsere Forschung zum Fallbeispiel Russland zusammen. Es ist eines der wenigen Länder, die es geschafft haben, eine Riege von inländischen Online-Plattformen aufzubauen, die immer noch mit dem Erfolg der Giganten aus den USA mithalten können. Im Folgenden analysiere ich die kulturellen, sozialen und geografischen Faktoren, die dies möglich gemacht haben. Was können andere Länder aus diesem spezifischen Fallbeispiel lernen?

Russische Online-Plattformen halten Schritt

Warum gibt es nur so wenige Online-Plattformen für Milliarden von Nutzer*innen? Die Antwort liegt in der Art, wie sie konkurrieren und Netzwerkeffekte erzeugen. In den letzten Jahrzehnten haben einige Giganten wie Google, Amazon und Meta Platform ein globales Monopol etabliert. Sie ziehen die meisten Nutzer*innen, darunter auch die Mehrheit der EU-Bürger*innen mit ihren dominanten Marktplätzen an. Dadurch haben Plattformen, die national entstehen, oft große Schwierigkeiten, wettbewerbsfähig zu werden, das heißt, mit dem Monopol mitzuhalten und eine inländische Alternative für die Menschen zu werden.

Trotz dieser Mammutaufgabe hat Russland es geschafft, eine Reihe von national wettbewerbsfähigen Dienstleistungen zu entwickeln, die ähnlich wie die globalen Giganten funktionieren (Tabelle 1). Wie ist das gelungen?

YandexVKontakteOdnoklassnikiOzon
ServiceSuchmaschineSocial MediaSocial MediaOnline-Verkauf
US-ModellWebCrawler/Lycos/AltaVistaFacebookClassmatesAmazon
Hauptkonkurrent AuslandGoogleYouTube/InstagramYouTube/InstagramAliExpress
Gründung1997200620061998
Grundlegende Informationen zu wichtigen russischen Internetunternehmen

Russlands “chaotische” nationale Bedingungen

Die nationalen Gegebenheiten schaffen entscheidende Bedingungen für das Wachstum von russischen Unternehmen. Einer der Gründe, warum inländische Online-Plattformen hier erfolgreich Nutzer:innen anlockten, liegt im späten Markteintritt der heutigen US-Plattformen. Als das Internet weltweit wuchs, befand sich Russland im Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991. Während dieser Zeit beschrieben westliche Unternehmer Russland als “feindlich” und “chaotisch”. Eine Finanzkrise im Jahr 1998, gefolgt vom dramatischen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf das Niveau von 1991, hohe Arbeitslosenquoten und eine geringe Kaufkraft der Bevölkerung schreckten ausländische Investoren von einem Einstieg in diesen kleinen nationalen Markt ab, in dem die Nutzer*innen zudem kein Englisch sprachen. Ausschlaggebend war Russlands schlechte Internetanbindung, was eine geringe Nutzungsbasis für westliche Dienste bot.

Begünstigt durch inländische Ingenieurs- und Mathematikkenntnise erlebte Russland trotz dessen – und überraschenderweise – einen Aufstieg des inländischen Internetbusiness. Sie sind das Erbe seiner sowjetischen Vergangenheit. Im Jahr 2000 erlebte Russland eine wirtschaftliche Erholung und Verbesserungen in staatlichen Institutionen. Die Anzahl der Internetnutzer:innen stieg drastisch von 3 Millionen im Jahr 2000 auf über 59 Millionen im Jahr 2010 an. Dieses rasante Wachstum des russischen Marktes zog westliche Investoren an, die in den ersten Jahren mehr als 100 Millionen US-Dollar in russische Internetunternehmen investierten.

In den folgenden Absätzen werde ich mich auf drei Marktsegmente konzentrieren – Suchmaschinen, soziale Medien und E-Commerce – und zeigen, wie nationale Unternehmen mit lokalen Netzwerkeffekten der steigenden Nachfrage nach russischsprachigen Diensten nachkamen und sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der US-Unternehmen erarbeiteten.

1. Suchmaschinen: Yandex’ Aufstieg vom Kyrill-Pionier zum nationalen Online-Plattform-Imperium

Mit dem wachsenden Volumen an Internetinhalten benötigten Nutzer:innen ein Werkzeug zur Navigation im Internet. Abgesehen von AltaVista verarbeiteten westliche Dienste keine Texte im kyrillischen Alphabet. Yandex war eine der wenigen russischen Suchmaschinen, die russischsprachige Webinhalte indizierten und so bis Ende der 1990er Jahre frühe Nutzer:innen anzogen. Gleichzeitig lernte Yandex aus den wachsenden Suchanfragen und verbesserte auf Grundlage dieser Datenmengen seine Suchalgorithmen. Als Google 2001 seine russischsprachige Oberfläche einführte, war die Suchqualität im Vergleich zu der von Yandex schlecht.

Der Zugang zu den Anfragen ermöglichte es Yandex zu verstehen, welche Dienste für die russischen Nutzer:innen relevant waren. Beispielsweise bemerkte das Yandex-Team rechtzeitig eine wachsende Nachfrage nach einem Online-Marktplatz durch vermehrte Suchen nach spezifischen Waren. Im Laufe der Jahre erweiterte Yandex daher sein Angebot um ein Portfolio lokaler Dienste wie Online-Karten, Mitfahrgelegenheiten sowie Lebensmittel- und Essenslieferungen. Im Jahr 2021 generierten diese Dienste mehr Umsatz als Werbung.

2. E-Commerce: Lokale Gegebenheiten kennen

Das Segment E-Commerce war vielleicht am schwierigsten zu entwickeln, weil es auf eine materielle Infrastruktur angewiesen war, die in den 1990er Jahren geprägt war durch einen Mangel an Kreditkarten, eine unzuverlässige Postzustellungsinfrastruktur und geringes Vertrauen in Online-Shopping. Da russische Nutzer:innen nur bereit waren, für Waren bei Lieferung zu zahlen, waren Verkäufer chronisch kapitalarm und hatten einen negativen Float. In der Folge zögerten ausländische Unternehmen, in den E-Commerce-Markt einzusteigen. Aber auch inländische Startups hatten Schwierigkeiten zu wachsen.

Einer der 1998 in Russland entstandenen Online-Marktplätze war Ozon, der Bücher verkaufte. Er überzeugte mit Lieferung, Lagerung und hohem Nutzungsvertrauen sowie einem stetig erweiterten Warensortiment. Ein besonders wichtiger strategischer Schachzug war die Entwicklung eines Netzwerks von Verkaufsstellen im Jahr 2002, wodurch Liefer-und Logistikinfrastrukturen optimiert wurden.und Der Erfolg schlug sich in einer erhöhten Nachfrage nach Online-Shopping nieder.An diesem Punkt betraten einige andere inländische Marktplätze – namentlich Wildberries, Citilink und Lamoda – die E-Commerce-Landschaft und erzielten aufgrund ihres späten Eintritts in einen relativ gereiften Markt mit einer funktionierenden Liefer- und Logistikinfrastruktur signifikantes Wachstum. 

Amazon war ebenfalls ein Spätzünder, als es 2013 eine russische Website eröffnete. Weil der E-Commerce-Riese nicht gegen nationale Akteur:innen konkurrieren konnte und nicht bereit war, selbst in den Aufbau einer landesweiten Infrastruktur zu investieren, wurde der russische Ableger kurz darauf schon wieder geschlossen. Dagegen erzielte AliExpress, ein chinesischer Online-Einzelhändler im Besitz von Alibaba, mehr Erfolge, unter anderem, indem sie extrem günstige Produkte anboten und sich mit VKontakte zusammenschlossen.

Zusammenfassend hatten Inländische Marktplätze aufgrund ihrer nationalen Präsenz und Lieferinfrastruktur einen Vorteil. Da aber keine Firma, einschließlich Ozon, den Markt früh dominieren konnte, gilt der E-Commerce-Markt in Russland heute als fragmentiert.

3. Soziale Medien: Persönliche Netzwerke und Nutzer*innenbindung

Weltweit entstanden soziale Medien später als Suchmaschinen- und E-Commerce-Plattformen. Facebook wurde 2004 entwickelt, aber weil es keine russische Version hatte und schwer zu navigieren war, weckte es kein Interesse bei russischen Nutzer*innen. Zwei in Russland geborene Social-Media-Plattformen, VKontakte und Odnoklassniki, erschienen 2006 und wurden sofort angenommen.

In sozialen Medien ist die Funktionalität bei persönlichen Netzwerken von großer Bedeutung. Im Vergleich zu Facebook waren russische Plattformen, insbesondere VKontakte, zu dieser Zeit technologisch überlegen und hatten ein fortschrittliches Suchsystem für Personen. Darüber hinaus lockten beide russischen Plattformen ihr Publikum an, indem sie Zugang zu illegal hochgeladenen Musik- und Videoinhalten gewährten. Als eine russische Version von Facebook veröffentlicht wurde, waren russische Social-Media-Nutzer*innen bereits über VKontakte oder Odnoklassniki miteinander verbunden. Lokale Netzwerkeffekte schufen somit mächtige Bindungsdynamiken, die für ausländische Unternehmen schwer zu überwinden waren.

4. Staatsschutz: Konsequenzen in verschiedenen Sektoren

Nach etwa 2008 begann die russische Regierung mit ihrer Mission, mehr Kontrolle über das Internet zu erlangen. Dazu gehörte die Übernahme von VKontakte durch staatlich nahestehende Wirtschaftsstrukturen im Jahr 2014. Diese quasi Verstaatlichung hatte jedoch wenig Einfluss auf den Wettbewerb zwischen russischen und westlichen Plattformen. Die Mehrheit der Nutzer*innen blieb über die inländischen sozialen Medienplattformen verbunden, obwohl sie wussten, dass sie vom Staat kontrolliert wurden. Eine Ausnahme bilden die Proteste gegen die Parlamentswahlen in den Jahren 2010-2012, wo sie vermehrt auf Twitter und Facebook zurückgriffen. Hieran wird deutlich, wie russische inländische Plattformen eine starke Nutzer*innenbindung geschaffen haben, die die Migration zu ausländischen Plattformen verhinderte.

Aber in einer Zeit rascher technologischer Innovationen stehen lokale Plattformen ständig im Wettbewerb. Ein gutes Beispiel ist der Fall von Yandex. Trotz seiner führenden Positionen im Heimatmarkt blieb Google ein ernsthafter Konkurrent, der mehr als 40% des russischen Marktes besetzte. Die Einführung des Android-Betriebssystems mit vorinstallierten Google-Diensten schuf einen dramatischen Vorteil für Google. Yandex’ Marktanteil begann zu erodieren, woraufhin es mit seinem eigenen Betriebssystem für russische Smartphones namens Yandex.Kit konkurrenzfähig zu bleiben. Aber, wie es schien, hatte Google bereits exklusive Verträge mit Herstellern abgeschlossen, die ihnen die Installation von Software von Drittanbietern untersagten. Im Jahr 2014 reichte Yandex eine Kartellklage gegen Google ein, und die russische Antimonopolbehörde unterstützte den nationalen Champion. Google musste dann Geräteherstellern ermöglichen, auch Yandex auf Android-Geräten anzubieten. 

Fazit: Was können wir von Russland über Online-Plattformen lernen?

Die Analyse des russischen Marktes bietet wertvolle Einblicke in die hochkompetitive Umwelt von Online-Plattformen und ihre Fördermöglichkeiten. Obwohl einige Bedingungen aufgrund der bestehenden Konvergenz nationaler Märkte mit US-amerikanischen Online-Plattformen möglicherweise nicht leicht replizierbar sind, gibt es wichtige Lehren für europäische Länder sowie für Indien, Brasilien und andere Nationen, die ihre digitale Wettbewerbsfähigkeit stärken möchten.

Erstens spielt die lokale Komponente eine bedeutende Rolle , wenn es um Wettbewerbsvorteile für Online-Plattformen geht. Lokale Unternehmen können lokale Hindernisse aufgrund ihrer Einbettung besser navigieren. Faktoren wie Sprache, Zugang zu lokalen Daten und räumliche Nähe können für die örtlichen Plattformanbieter klare Vorteile schaffen. Plattformen, die von nationalen Netzwerkeffekten profitieren, sind jedoch naturgemäß auf ihre nationalen Märkte beschränkt und müssen diese Begrenzung überwinden.

Zweitens können lokale Online-Plattformen möglicherweise von staatlichem Schutz profitieren. Im Laufe der Jahre schützte die russische Regierung selektiv nationale Unternehmen. Einige politische Praktiken hatten zum Beispiel im Bereich sozialer Medien wenig Einfluss auf den Wettbewerb. Eine Offenheit für den ausländischen Marktzugang trug zu den hohen Innovationsraten der russischen Plattformen bei. Nichtsdestotrotz erlangten Russische Plattformen in einer abgeschirmten Marktumgebung einen First-Mover-Vorteil. Der Staat intervenierte, als Plattformen positive Netzwerkdynamiken erzeugten und stabiles Wachstum zeigten.

Heutzutage können lokale Online-Plattformen alternative Lösungen entwickeln, die die Abhängigkeit von globalen Plattformen verringern. Beispielsweise kann es sinnvoll sein, eine datenbasierte Infrastruktur auf Branchenebene, die die Markteintrittsbarrieren für kleinere Innovatoren verringert und ihnen Wachstumspotenzial bietet, zu schaffen. Diese Themen sind Schwerpunkte im INCA-Forschungsprojekt.

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Alina Kontareva, Dr.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft

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