Unsere vernetzte Welt verstehen
Arbeiten aus der Ferne? Wie Remote Work in die Städte abwandert
Remote Work ist gekommen, um zu bleiben. Doch während viele von uns von “überall” aus arbeiten könnten, geht die Urbanisierung der digitalen Arbeit weiter. Städte werden zu den Mega-Hubs für online-vermittelte Arbeit. Doch was bedeutet dieser Wandel für unsere Städte und die ländlichen Regionen, die dabei auf der Strecke bleiben?
“The new electronic independence re-creates the world in the image of a global village”.
Als der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan 1962 den historischen Begriff “globales Dorf” prägte, war dies vielleicht die visionärste Behauptung zum digitalen Zeitalter. McLuhan sah die dichte Vernetzung im World Wide Web digitaler Geräte voraus und stellte sich eine Welt vor, in der geografische Grenzen keine physischen Grenzen mehr für Einzelpersonen oder Unternehmen darstellen würden. Im selben Jahr – 1962 – wurde in Dallas, Texas, das IT-Outsourcing-Unternehmen Electronic Data Systems gegründet. Mit einem revolutionären Geschäftsmodell, das später als IT-Outsourcing bekannt wurde, half es US-amerikanischen Unternehmen, wie der späteren Muttergesellschaft General Motors, Milliarden von Dollar zu sparen und damit ihre Konkurrenten zu übertreffen.
Als Outsourcing und Offshoring verschmolzen
Mit dem Aufkommen der Informations- und Kommunikationstechnologien trat die lange Geschichte des Outsourcings in eine neue Phase ein, als sie mit dem Offshoring zu verschmelzen begann: Bei digitalen Geschäftsabläufen konnten Produktionsprozesse nicht nur von einem externen Zulieferer durchgeführt werden, sondern dieser Zulieferer konnte sich auch in einem anderen Teil des Landes, wenn nicht sogar der Welt befinden, wo die Arbeitskräfte noch billiger sein konnten. Hier kommen die Vision McLuhans, das ursprüngliche Versprechen des Internets vom grenzenlosen digitalen Raum und der wirtschaftliche Reiz, Produktionskosten zu senken, zusammen: Die globalisierte digitale Wirtschaft.
In den 60 Jahren nach McLuhans Vision eines schrumpfenden Globus ist ein Großteil der Hilfs- und gering qualifizierten Arbeitskräfte dem doppelten Kostensenkungsparadigma von Outsourcing und Offshoring unterworfen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Callcenter und Business Process Outsourcing in Bangalore und Lahore für Unternehmen in Boston und London arbeiten. Für hochqualifizierte Arbeitskräfte wie Anwält*innen, Journalist*innen und Architekt*innen war der feste Arbeitsplatz jedoch nach wie vor wichtig. Dies änderte sich erst mit dem Aufkommen jenes Virus, der nicht Computer, sondern Menschen infizierte. Aufgrund von Reisebeschränkungen, Ladenschließungen und Eindämmungsmaßnahmen blieben die Fachkräfte zu Hause und arbeiteten von dort aus.
Sorge vor den “Anywhere Jobs”?
Jetzt, wo sich der virale Schleier der Pandemie gelüftet hat, stellt sich die Frage, ob diese neue berufliche Ordnung von Dauer sein wird. In einer Umfrage aus dem Jahr 2022 unter einer repräsentativen Auswahl von Arbeitnehmer*innen in den USA gaben 87 % aller Befragten an, dass sie, wenn angeboten, remote arbeiten. Die Studie zeigt, dass vor allem hochqualifizierte Angestellte zunehmend bereit sind, von anderen Orten als ihrem Büro aus zu arbeiten. Da Regierungen eine Massenabwanderung von Fachkräften und Talenten in Offshoring-Zentren befürchten, wird vor den sog. “Anywhere Jobs” gewarnt; eine neue Art hochqualifizierter Arbeit, die theoretisch von jedem Ort der Welt aus erledigt werden kann. Vor allem die kreativen und innovativen Tätigkeiten von Grafikdesigner*innen und Softwareentwickler*innen gelten als zukünftige “Anywhere Jobs”. Und selbst in den Elfenbeintürmen der Wissenschaft scheinen jene Teams die produktivsten zu sein, in denen die Mitglieder von verschiedenen Standorten aus arbeiten, wie eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt.
Wird also die professionelle Arbeit das gleiche Schicksal ereilen wie die gering qualifizierte Arbeit? Werden nach virtuellen Assistent*innen und digitalen Angestellten auch Sportjournalist*innen und Unternehmensberater*innen outgesourct und offgeshort werden? Lassen Sie uns das einmal durchdenken. Wenn professionelle Arbeit von überall aus erledigt werden könnte, wohin würde sie dann fließen? Folgt man der Logik der Vergangenheit, des Outsourcings und Offshorings, dann sollten wir die meisten “Anywhere Jobs” dort finden, wo die Arbeitskosten am niedrigsten sind. Um dieser Behauptung nachzugehen, haben meine Kolleg*innen und ich einen der am schnellsten wachsenden und global vernetzten Bereiche des Arbeitsmarktes untersucht: die Online-Gig-Wirtschaft. Die Online-Arbeits- oder “Gig”-Ökonomie (projektbasierte Arbeit) ist ein digitaler Marktplatz, auf dem Dienstleistungen weltweit über Plattformen wie Fiverr oder Upwork ausgetauscht werden. In Projekt-Häppchen feilen Buchhalter*innen aus Nairobi an Bilanzen für Firmen in New York, während Grafikdesigner*innen aus Bangalore Startup-Logos für Käufer*innen in Berlin stylen.
Grenzenlose Arbeit wandert in die Stadt
Theoretisch sollte sich diese online-vermittelte Arbeit vollständig der Logik des Outsourcing und Offshoring unterordnen, da der Online-Arbeitsmarkt von Natur aus digital und selten reguliert ist. Wir haben jedoch 1,8 Millionen Arbeitsplätze aus mehr als 100 Ländern zwischen 2013 und 2020 untersucht und festgestellt, dass professionelle Arbeit nicht “überall” ist. Arbeit ist nicht grenzenlos. Wir stellen fest, dass auf globaler Ebene die Kräfte von Angebot und Nachfrage, niedrigem Lohnniveau und Schieflagen bei Arbeitskosten zum Tragen kommen. Ein Großteil der Online-Arbeit wird von Kund*innen an der Ost- und Westküste der USA, in Westeuropa und Australien angefordert, während viele der Online-Arbeiter*innen aus Osteuropa, Südasien und von den Philippinen stammen. Aber wenn wir die Dynamik des globalen Online-Arbeitsmarktes genauer untersuchen, stellen wir etwas Erstaunliches und doch nicht neues fest: Die Arbeit wandert in die Stadt.
Rund 30 % aller von uns beobachteten Online-Projekte, sowohl in Ländern des globalen Nordens als auch des Südens, werden in der Hauptstadtregion eines Landes abgeschlossen. Tatsächlich ist in der OECD pro Kopf die Wahrscheinlichkeit, eine Person zu finden, die in der Hauptstadt online gearbeitet hat, 3,3-mal höher als an jedem anderen Ort im Rest des Landes. In den Ländern des Globalen Südens ist die Wahrscheinlichkeit, eine*n Online-Arbeiter*in in der Hauptstadtregion zu finden, 15 (!) Mal höher. Dies widerspricht der Logik der Kostensenkung, nach der Arbeit, wenn sie grenzüberschreitend abgewickelt wird, in die ländlichen Regionen fließen sollte, wo das Lohnniveau niedrig ist. Man könnte argumentieren, dass es die gering qualifizierten Jobs sind, die sich in den digitalen Ausbeuterbetrieben der Vorstädte ansammeln, aber in Wirklichkeit ist das nicht der Fall. Die Bezahlung ist in der Stadt deutlich höher als auf dem Land. Im Durchschnitt verdienen Arbeitnehmer*innen in der Hauptstadt 24 Prozent mehr als in den OECD-Ländern (35 Prozent im “Globalen Süden”). Online-Gigworker in Berlin verdienen 21 Prozent mehr als in Brandenburg, Freelancer in London verdienen 22 Prozent mehr als in Wales, und Pariser Projektlöhne sind 40 Prozent höher als in der Normandie.
Metropolen ziehen Talente an
Ein bedeutendes Merkmal, das für das Verständnis dieser globalen Urbanisierung von Remote Work von Bedeutung ist, sind die Qualifikationen. Die Anziehungskraft der Großstädte zieht die am besten ausgebildeten (und damit teuren) Talente an. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage unter Stadtbewohner*innen zeigt, dass es die Arbeitsmöglichkeiten, das höhere Einkommen, der bessere Zugang zur Gesundheitsversorgung und die allgemein hohe Lebenszufriedenheit sind, die Städte zu attraktiven Arbeits- und Lebensorten machen. Unter anderem deshalb prognostiziert das Weltwirtschaftsforum, dass im nächsten Jahrzehnt fast die Hälfte des weltweiten BIP-Wachstums aus rund 400 Städten kommen wird. Für die Arbeit scheint die Urbanisierung eine viel stärkere Kraft zu sein als die Digitalisierung. Wir zeigen, dass nur, weil eine Arbeit von überall aus erledigt werden kann, dies nicht bedeutet, dass sie überall stattfinden wird.
Von kaputten Provinzen und boomenden Metropolen
Aber wenn selbst die grenzenloseste Arbeit in die Metropolen strömt, was bedeutet das dann für weniger wohlhabende ländliche Regionen, in denen es dann an Talenten mangelt? Und was wird dieser Wandel für unsere Städte bedeuten, in denen bezahlbarer Wohnraum und Kinderbetreuung schon jetzt begrenzt und Infrastrukturen überlastet sind?
In seinem 2019 erscheinenden Buch “The future of capitalism” zeichnet der Oxforder Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier ein düsteres Bild: Er sieht eine große Divergenz zwischen kaputten Provinzstädten wie seiner Heimatstadt Sheffield, die nach der Auslagerung der Stahlindustrie in den 1970er Jahren ohne Arbeit dasteht, und der boomenden Metropole London, wo schwindelerregende Löhne Talente aus der ganzen Welt anziehen, die aber unter sozialer Ungleichheit und schwachem gesellschaftlichem Zusammenhalt leidet. Collier fordert eine Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft durch die Ansiedlung neuer Industrieprojekte in Regionen, die einst für ihre Schwerindustrie weltbekannt waren. Die von Elon Musk betriebenen Megafabriken oder die Lagerhäuser von Amazon könnten einen Teil der Arbeit zurückbringen, die das Land in den letzten Jahrzehnten in Richtung Osten verlassen hat.
Neue Konzepte für die Zukunft der Remote Work
Für das digitale Zeitalter braucht es aber vielleicht mehr als das. Die Urbanisierung wird sich fortsetzen und sogar noch beschleunigen. Neue Konzepte, um das Leben in den Megastädten lebenswerter zu machen und sie widerstandsfähiger und nachhaltiger zu machen, sind dringend erforderlich. Man denke an begrünte Dächer, Community Networks oder den Einsatz von KI zur besseren Planung der Infrastruktur. Aber was ist mit den ländlichen Regionen? Erfreulicherweise zeigt unsere Studie auch, dass digitales Arbeiten außerhalb der Stadt möglich und letztlich auch rentabel ist.
Einigen ländlichen Regionen gelingt es, aktiv am Online-Arbeitsmarkt teilzunehmen. Dabei handelt es sich vor allem um Gebiete in der Nähe von Großstädten in Westeuropa und Nordamerika, die ähnliche Merkmale wie die Megastädte aufweisen: Eine gute Internet-Infrastruktur, eine starke lokale Wirtschaft mit Schwerpunkt auf IKT-Branchen, hochqualifizierte Arbeitskräfte und spezialisierte Ausbildungsmöglichkeiten. Diese Ergebnisse zeigen, dass Remote Work ein Instrument sein kann, um den ländlichen Raum zu stärken. Dafür muss Remote Work in umfassende Programme zur Unternehmensförderung und Arbeitsmarktentwicklung einbezogen werden. Benachteiligte Regionen müssen mit einem zuverlässigen und hochwertigen Internetzugang versorgt werden. Es muss in die Infrastruktur investiert werden, ebenso wie in Ausbildungsmöglichkeiten, Kultureinrichtungen, Gesundheitswesen und Kinderbetreuung vor Ort. Denn ohne die Attraktivität des ländlichen Raums als Lebens- und nicht nur als Arbeitsort liegen “Anywhere Jobs” in weiter Ferne.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
Jetzt anmelden und die neuesten Blogartikel einmal im Monat per Newsletter erhalten.
Digitale Zukunft der Arbeitswelt
Zwischen Zeitersparnis und Zusatzaufwand: Generative KI in der Arbeitswelt
Generative KI am Arbeitsplatz steigert die Produktivität, doch die Erfahrungen sind gemischt. Dieser Beitrag beleuchtet die paradoxen Effekte von Chatbots.
Widerstände gegen Veränderung: Herausforderungen und Chancen in der digitalen Hochschullehre
Widerstände gegen Veränderung an Hochschulen sind unvermeidlich. Doch richtig verstanden, können sie helfen, den digitalen Wandel konstruktiv zu gestalten.
Von der Theorie zur Praxis und zurück: Eine Reise durch Public Interest AI
In diesem Blogbeitrag reflektieren wir unsere anfänglichen Überlegungen zur Public Interest AI anhand der Erfahrungen bei der Entwicklung von Simba.