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open access
04 November 2016

Open Access oder: die Zurückeroberung der Autonomie

Die akademische Welt ist drauf und dran, sich auch bei Open Access wieder in die Abhängigkeit großer Verlage zu begeben. Doch das muss nicht sein, meinen Benedikt Fecher und Gert G. Wagner: Durch intelligente Investitionen in die eigene Infrastruktur könnte die Wissenschaft einen Teil ihrer Autonomie wiedererlangen.

Autoren: Benedikt Fecher, Gert G. Wagner

Zuerst erschienen bei Metron

Der Unternehmer Richard Merton würde sich wahrscheinlich über Open Access freuen, also dem via Internet weltweit freien Zugang zu wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern. Denn Merton war ein Unternehmer, dem der Fortschritt der Wissenschaft gleichermaßen wie sozialer Fortschritt am Herzen lag – und Open Access kann nicht nur zum wissenschaftlichen, sondern auch zum sozialen Fortschritt weltweit beitragen.

Mindestens so sehr wie Richard Merton würde sich sein Namensvetter Robert K. Merton, ein prägender US-amerikanischer Wissenssoziologe, über Open Access freuen. Denn für Robert K. Merton (mit Richard nicht verwandt) gehörte organisierte Skepsis, Universalismus, Uneigennützigkeit und Kommunitarismus zum Kern einer ethischen Wissenschaft. Der Kommunitarismus besagt, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit das Ergebnis kooperativer Anstrengungen sind und allen Wissenschaftlern zur Verfügung stehen müssen. Die Forderung nach Open Access, also dem kostenfreien Onlinezugang zu wissenschaftlichen Artikeln, übersetzt Mertons Prinzipien einer guten Wissenschaft damit ins digitale Zeitalter.

Die Realität, was den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur betrifft, ist heute allerdings eine andere. Laut einer Studie, die die EU-Kommission in Auftrag gegeben hat, lag der Anteil an frei im Netz verfügbaren Publikationen aus begutachteten Zeitschriften 2012 gerade einmal bei 13 Prozent. Trotz eines Anstiegs in den vergangenen Jahren, ist der Großteil der „ordentlichen“ Publikationen noch immer hinter Bezahlschranken von kommerziellen Verlagen. Und das ist ein großes Problem für Wissenschaftler, insbesondere in den Ländern, deren Wissenschaftssystem sich erst entwickelt, und auch für die Zivilgesellschaft, die sich über neue Entwicklungen auf dem Laufenden halten wollen.

Es ist folglich nicht verwunderlich, dass Forschungsförderer und forschungspolitische Entscheidungsträger zunehmend für Open Access eintreten. Erst im Mai kündigte der EU-Rat für Wettbewerbsfähigkeit, dem immerhin alle für Wissenschaft zuständigen Minister angehören, dass bis zum Jahr 2020 alle mit EU-Mitteln finanzierten, wissenschaftlichen Publikationen im Internet frei verfügbar sein sollen. Diesem Aufruf folgte vor einigen Wochen das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Start einer eigenen Open-Access-Strategie.

Es ist anzunehmen, dass der angekündigte Umstieg auf Open Access vorrangig über den sogenannten „goldenen Weg“ und Offsetting-Deals geschehen wird. Das heißt, dass Verlage von Autoren für Veröffentlichungen bezahlt werden und diese dann öffentlich im Netz zugänglich sind. Die Grundlage für diese Strategie lieferte ein einflussreiches White Paper der Max Planck Digital Library aus dem Jahr 2015, in dem die Autoren den Komplettumstieg auf Open Access ohne Kostenanstieg als möglich erachteten. Fortan soll also nicht mehr für das Lesen, sondern für das Publizieren gezahlt werden.

Was zunächst absurd klingt, ist in der Wissenschaftspolitik grundsätzlich akzeptiert. Bibliotheken werden seit jeher öffentlich finanziert – wer dort liest, muss nicht aus eigener Tasche an die Verlage den Preis für das Lesen zahlen. Hinzu kommt, dass die Verleger wissenschaftlicher Bücher mit Druckzuschüssen aus öffentlichen Mitteln subventioniert werden. Und neuerdings stellen große Forschungsförderer wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) oder die Leibniz-Gemeinschaft ihren Wissenschaftlern Fonds zur Verfügung, um für Open-Access-Publikationen (meist in Zeitschriften) die Gebühren, die die Verlage verlangen, zu decken. In dieser Logik verhandeln derzeit wissenschaftliche Einrichtungen mit Verlagen große „Offsetting-Deals“ aus, bei denen ein bestimmter Betrag an einen Verlag gezahlt wird, damit dieser als Gegenleistung keine oder reduzierte Publikationsgebühren verlangt und die Artikel im Internet frei verfügbar veröffentlicht. Aus dem Druckkostenzuschuss bei Büchern wird eine volle Kostenerstattung bei Zeitschriften.

Neue Strategie mit Tücken

Diese Strategie erscheint sinnvoll, um mittelfristig alle Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung – zumindest solcher, die in Zeitschriften veröffentlicht werden – im Internet verfügbar zu machen. Sie hat allerdings eine große Tücke, nämlich die Reproduktion der folgenschweren Abhängigkeit der Wissenschaft von kommerziellen Verlagen im digitalen Zeitalter.

Um die Abhängigkeit der Wissenschaft von Verlagen richtig einschätzen zu können, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Bis Ende der Sechzigerjahre wurden Fachzeitschriften überwiegend von den Fachgesellschaften, also von der akademischen Welt selbst, herausgegeben. Um den administrativen Aufwand zu reduzieren, entschloss man sich, die Zeitschriften an professionelle Verlage „auszulagern“. Daneben führte die Einführung des „Science Citation Indexes“, ein bibliometrisches Instrument zur Herausbildung von „Core Journals“. Dabei ging es anfangs nur darum, Bibliotheken bei der Auswahl der Zeitschriften-Abonnements zu helfen. Aber: Der in Zitationen gemessene hohe Einfluss („Impact“) der Spitzenjournals macht sie als Publikationsort für Wissenschaftler heute begehrter denn je. Top-Publikationen entscheiden schließlich über Berufungen und Drittmittel – und wer nicht  top publiziert, will wenigstens viel veröffentlichen, um so Impact-Punkte zu sammeln.

Während in den 60ern, als Zeitschriften noch gedruckt und verteilt werden mussten, die Arbeitsteilung zwischen Akademia und den Verlagen sinnvoll war, wirkt diese Arbeitsteilung heute, zumindest bei Artikelpublikationen, nahezu aus der Zeit gefallen. Die Rolle der Verlage ist in der wissenschaftlichen Wertschöpfung zunehmend vernachlässigbar und könnte wegrationalisiert werden. Wissenschaftler schreiben Artikel, begutachten und bewerten sie. Der Verlag organisiert den Prozess und veröffentlicht den Artikel unter seiner Flagge. Gerade die Organisation und Distribution ist es aber, die durch die Unterstützung digitaler Technologien verkürzt und vereinfacht werden konnte. Qualitativ hochwertige Open-Access-Zeitschriften können heutzutage von Lehrstühlen in Zusammenarbeit mit Universitätsbibliotheken organisiert und gepflegt werden. Ein Beispiel ist die sozialwissenschaftliche Fachzeitschrift „Survey Research Methods“, die  an der Bibliothek der Universität Konstanz angesiedelt ist.

Auf der Mittlerfunktion der Verlage verzichten

Dass also nun die Verlage an den Verhandlungstisch laden, um über die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens zu verhandeln, zeigt zwei Dinge: Erstens, dass Verlage in vom Steuerzahler subventionierten Open Access mittlerweile ein lukratives Geschäftsmodell erkannt haben. Und zweitens, dass Akademia aus der Vergangenheit wenig gelernt hat. Die akademische Welt scheint nicht zu bemerken, dass sie mit der derzeitigen Politik die Print-Abhängigkeit im Digitalen eins zu eins reproduziert. Die großangekündigte Umwälzung des Marktes für das wissenschaftliche Publizieren ist bei genauerer Betrachtung nur die Ausweitung von Druckkostenzuschüssen, wie sie bei Fachbüchern üblich sind, auf eine volle Kostenerstattung für Zeitschriftenpublikationen.

Eine gegenwärtig kaum diskutierte Möglichkeit, wissenschaftliche Publikationen im Internet kosteneffizient zu publizieren, liegt darin, auf die Mittlerfunktion der Verlage gezielt zu verzichten und sich wieder stärker selbst als Herausgeberin zu engagieren (siehe Survey Research Methods). Es wäre mehr möglich, als dass sich einzelne Wissenschaftler oder Wissenschaftlergruppen engagieren. Man stelle sich vor, dass sich die vier renommierten deutschen Forschungsgesellschaften, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft, zusammentun und eine eigene Open-Access-Zeitschriften-Plattform gründen. Die Plattform könnte von den großen deutschen Forschungsbibliotheken betrieben werden, zusammen mit einem Repositorium für die Forschungsdaten und -materialien, die den Publikationen zugrunde liegen.

Die öffentliche Finanzierung wäre keine Bevorzugung einer solchen Plattform, da die Wissenschaftsverlage ja über Druckkostenzuschüsse und Abonnements öffentlich finanzierter Bibliotheken faktisch auch staatlich subventioniert werden.

Auf der neuen Plattform könnten eigene Zeitschriften für große Fachgebietsgruppen aufgebaut werden und einige zentrale multidisziplinäre Zeitschriften, die sich selektiv aktuellen Themen und dem Transfer wissenschaftlicher Erkenntnis in die Zivilgesellschaft widmen. Die wesentliche Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Plattform ist, dass die Fachgesellschaften ihre besten Wissenschaftler dazu bringen, die Redaktionsleitung zu übernehmen und Wissenschaftler ermutigen, in diesen neuen Zeitschriften zu publizieren.

Im Gegensatz zu einer rein lizenzrechtlichen Betrachtung von Open Access, die derzeit die Forschungspolitik bestimmt, könnte eine intelligente Investition in eine eigene Infrastruktur dazu beitragen, dass die Wissenschaft ein Stück ihrer an sich selbstverständlichen Autonomie zurückgewinnt. Sicherlich würde das beide eingangs genannte Mertons freuen.

Foto: User: h_pampel / Flickr, CC BY-SA 2.0

 

 

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Benedikt Fecher, Dr.

Assoziierter Forscher & Ehem. Forschungsprogrammleiter: Wissen & Gesellschaft

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