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shanghai_nudging
30 Januar 2018| doi: 10.5281/zenodo.1162629

Nudging im digitalen Zeitalter

Mit Big Data eröffnet sich eine völlig neue Dimension des „Nudgings“: Wie und durch welche Instrumente können digitalisierte, personenbezogene Daten und Verhaltensökonomie dazu genutzt werden, das Verhalten der BürgerInnen zu beeinflussen? Lässt sich mittels Big-Data-basiertem Nudging ein digitalisierter Kontroll- und Überwachungsstaat gründen?

Der Paternalismus-Vorwurf gegenüber dem Nudging wird seit vielen Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch im öffentlichen Diskurs umfassend verhandelt. Grundlegend für das (staatliche) Nudging sind dabei die verhaltenspsychologischen Erkenntnisse der Behavioural Economics. Auch mit der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften an Richard H. Thaler, US-amerikanischer Verhaltensökonom, im vergangenen Oktober wurde die gegenwärtige Bedeutung des Nudgings abermals unterstrichen.

Auf globaler Ebene rückte besonders Chinas Social Credit System mehr und mehr in den Mittelpunkt der Debatte. 2014 erklärte die chinesische Regierung, dass sie bis 2020 ein staatliches Sozialkredit-System gesamtgesellschaftlich implementieren möchte, das das soziokulturelle Verhalten ihrer BürgerInnen aufnehmen, erfassen und bewerten soll – ein technokratisches und digitales (Überwachungs-)System, in dem nicht-konformes Verhalten zunächst durch Maluspunkte, darüber hinaus aber auch durch soziale oder wirtschaftliche Exklusion, sanktioniert wird. So das uns allgemein und besonders medial vermittelte Bild.

Workshop: Nudging und digitale Plattformen

In seinem Vortrag Nudging with Chinese Characteristics? A preliminary study of the emerging Social Credit System(s) in China mit anschließender Diskussion zeichnete Dr. Maximilian Mayer (Research Professor an der Tongji University in Shanghai) am 10. Januar 2018 ein differenziertes und für viele TeilnehmerInnen neues Bild des Social Credit Systems.

Um gleich der Vorstellung eines sich etablierenden totalitären Überwachungsstaates im Orwell’schen Sinne ihre Wirkkraft zu nehmen: Das eine umfassende Social Credit System, das bis 2020 Chinas Gesellschaft kontrollieren und lenken soll, werde es in der propagandierten Form nicht geben, so Maximilian Mayer. Wahrscheinlicher sei, dass es eine Vielzahl an digitalen und Big-Data-basierten Sozialkredit-Systemen in diversen Modi und auf verschiedenen staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen geben werde.

Das Voranschreiten der digitalen Transformationen in allen Lebensbereichen ließe sich besonders in China durch den, im Vergleich zu den westlichen Industriestaaten, rasanten gesellschaftlichen Wandel beobachten, so Mayer. Sei man in den 1990er Jahren noch davon ausgegangen dass die Digitalisierung die autoritären Regime im 21. Jahrhundert verdrängen werde, formiere sich innerhalb der Volksrepublik China ein gegenteiliges Beispiel. Der autoritäre Staat hätte sich – im Sinne eines Authoritarianism 2.0 – die Digitalisierung zu eigen gemacht. Dabei sei stets zwischen Propaganda, Nudging und Überwachung (Surveillance) zu differenzieren. Innerhalb dieser drei konzeptionellen Kategorien agierten jeweils unterschiedliche Akteure, z.B. Parteiorgane (Propaganda), staatliche Behörden (Nudging) oder die Polizei im Bereich der öffentlichen Sicherheit (Surveillance) mittels verschiedenartiger Medien und differierenden Zielen.

Sesame Score: Nudging with Chinese Characteristics

Bedingt durch den avisierten digitalen Authoritarianism 2.0, so Mayer, lägen den sozialen Bonitätssystemen in China spezifische Charaktereigenschaften zugrunde. Zunächst ließen sich multiple – privatwirtschaftliche und staatliche – Akteure ausfindig machen, die in die gegenwärtigen Big-Data-basierten Scoring- und Nudging-Prozesse auf verschiedensten Plattformen eingebunden seien. Diese Akteure, die für die laufenden und sich etablierenden Kreditbewertungssysteme verantwortlich seien, ließen sich auf drei interdependenten Ebenen verorten: auf nationaler Ebene (z.B. die schwarze Liste des Obersten Volksgerichtshofs der VR China), auf Provinz-Ebene (Social Credit System in Rongcheng) oder auf der Ebene von wirtschaftlichen Unternehmen (Sesame Credit Ranking). Sesame Credit gehöre dabei zu den derzeit größten Kreditagenturen und ist Teil des mächtigen IT-Unternehmens Alibaba.

„The higher the scores, the lower chance the user may default“

Alibaba beschreibt Sesame Credit auf der eigenen Homepage dabei wie folgt:

„Sesame Credit is the first credit agency in China to use a scoring system based on online and offline data to generate individual credit scores for consumers and small business owners. […] Sesame Credit’s services are expected to be applied in a slew of daily life scenarios. For example, landlords will be able to check potential tenants’ credit scores; employers will be able to make better hiring decisions by checking the credit histories of job applicants; users with good creditworthiness can rent a car without paying a deposit. Sesame Credit is testing the service with some of China’s hotels, which are allowing travelers with superior sesame credit ratings to book and stay without paying in advance. In addition, Sesame Credit is also conducting a test program with a Chinese online dating site that allows suitors to check their potential dates’ credit ratings to make sure they are not meeting someone who is dishonest or untrustworthy. The credit information can only be accessed with candidates’ permission.“

Der zu erreichende Score liegt zwischen 350 und 950 Punkten und besteht aus einer unterschiedlich gewichteten Daten-Komposition, die sich aus der Kredithistorie, dem bisherigen Konsumverhalten und den damit verbundenen Präferenzen, den bisherigen Vertragserfüllungen sowie den persönlichen Charaktereigenschaften und den sozialen Beziehungen einer Person zusammensetzt.

Quelle: Extra Credits | YouTube | 0:33

An dieser Stelle verwies Maximilian Mayer nochmals darauf, dass die Schaffung eines einzigen Social Credit Systems sehr unwahrscheinlich sei. Die derzeitige Situation, bedingt durch die beteiligten privatwirtschaftlichen Akteure, staatlichen Ministerien sowie deren Bürokratien, sei zu hoch fragmentiert und pluralistisch geordnet. In den kommenden zwei Jahren sei die Schaffung und der Ausbau einer Zentralisierung, hin zu einem übergeordneten Scoring-System, schlichtweg nicht möglich.

Nudging ist nicht gleich Nudging

Deutlich wurde auch: Es gibt verschiedenste Techniken des Nudgings, von der bloßen Anreizschaffung durch verschiedene Applications über das Scoring des Verhaltens bis hin zur Gamification, sprich einer Spielifizierung mit dem Charakter eines Belohnungssystems.

Die an den Vortrag anschließende Diskussion spiegelte dabei auch den zeitgenössischen Diskurs und die Kontroversen um den libertären Paternalismus und dessen Charakter eines Oxymorons wieder. Dass es neben der wissenschaftlich kanonischen Konzeption des Nudges nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein realpolitisch verschiedene Auffassungen darüber gibt, was das (staatliche) Nudging charakterisiert, wurde im gemeinsamen Austausch abermals deutlich. Erfolgt ein staatlicher Nudge geheim oder nicht? Oder vielmehr: Sollte ein staatlicher Nudge, inklusive seiner Wirkungen und Mechanismen, klandestin erfolgen?

So wurde aus dem Kreis der TeilnehmerInnen auch angemerkt, dass das Scoring-System als ein Belohnungs- und Bestrafungssystem im Sinnen Skinners beleuchtet werden könne – Soziale Konditionierung im digitalen Zeitalter.

Big Data & Nudging: Forschungsprojekt am HIIG

Wo beginnt staatliches Nudging und wo endet es in autoritärer Überwachung? Wie werden die Sozialkredit-Systeme im Jahr 2020 aussehen? Wird sich die Idee des Social Scorings auch in den westlichen Industriestaaten etablieren und ausbreiten? Abschließend konnten diese Fragen freilich nicht beantwortet werden. Wohl aber gab der Workshop die Möglichkeit, ein sehr detailliertes Bild über den Status Quo und die nahe Zukunft des Social Scorings in China zeichnen zu können.

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

David Prinz

Ehem. Studentischer Mitarbeiter: Big Data & Nudging

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