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22 Januar 2016

Neue Herausforderungen und Perspektiven von TV-Produktionsfirmen auf dem Bewegtbildmarkt im Internet – Vergleich zwischen Theorie und Praxis

Seit einigen Jahren hat die Digitalisierung Einzug in die Medienbranche gehalten, das speziell in der Fernsehbranche zu einer Deregulierung des Fernsehmarktes und zu einer Machtverschiebung geführt hat. Der daraus entstandene ‚neue Bewegtbildmarkt’ im Internet zwingt die etablierten Fernsehsender und die Produktionsunternehmen dazu, ihre vorhandenen Kernkompetenzen und Ressourcen zu überprüfen und sich strategisch neu zu positionieren.

Mit Blick auf die klassische TV-Wertschöpfungskette wird deutlich, dass das ökonomische Konzept der Disintermediation dazu führt, dass die Fernsehproduzenten ihre Inhalte – unter Umgehung der Fernsehsender – direkt an die Endkonsumenten im Internet vertreiben können (siehe Disintermediationsthese)[1].

TV-Wertschöpfungskette

Trotz der Tatsache, dass die technologischen Voraussetzungen erfüllt sind und die TV-Produzenten dem Internet ein hohes ökonomisches Potenzial zuschreiben, halten sich bei dem Vertrieb ihrer eigenen Inhalte jedoch ‚noch’ zurück.

Was sind die Gründe für diese Zurückhaltung?

Bisherige wissenschaftliche Studien mit Produktionsunternehmen haben gezeigt, dass:

  • sie sich „gegenüber Sendern und Online-Plattformen mit großer Rezipientennachfrage in der Außenseiterposition“ sehen.[2]
  • sie sich „klar im B2B-Geschäft“ sehen und „wenig Interesse [haben] Consumerbrands aufzubauen.“ (ebd.)
  • sie sich davor scheuen, „ihre Aktivitäten auf vor- und nachgelagerte Produktionsstufen auszuweiten“, da sie große Hürden hinsichtlich „ihrer meist schwachen Marken“ und in den hohen Investitionskosten sehen.[3]
  • „der Markt für Online-Fernsehen noch nicht voll entwickelt [ist] und „die von Produktionsfirmen in diesen Märkten verfolgten Strategien bislang als Testhandeln einzuschätzen [sind].“[4]

Die hier aufgeführten Unsicherheiten seitens der Produzenten – hinsichtlich eines Direktvertriebs ihrer Inhalte im Internet – liegen unter anderem darin begründet, dass sie ein anderes Kerngeschäft betreiben als die Fernsehsender. Das klassische Kerngeschäft eines Fernsehsenders besteht hauptsächlich in der Programmzusammenstellung und -vermarktung (vgl. Abb. 1). Hinzu kommt, dass sich die Sender über Jahrzehnte hinweg zahlreiche strategische Wettbewerbsvorteile gegenüber potenziellen neuen Marktteilnehmern aufgebaut haben, wie etwa eine bekannte Marke und Reputation, eine große Reichweite und Kundenbasis, Know-how in der zielgruppengerechten Zusammenstellung von Programminhalten, Zugang zu Premiuminhalten bedingt durch enge Kooperationen mit den Major Studios usw.. Diese Vorteile können die Sender aus ihrem traditionellen Geschäft adaptieren und auf den neuen Bewegtbildmarkt übertragen (siehe Differenzierungsstrategie) – schon allein deshalb genießen sie gegenüber neuen Bewegtbild-Anbietern einen deutlichen Vorsprung.[5]

Produktionsfirmen hingegen agieren vorrangig als Zulieferer (B2B) von Programminhalten an ihre Hauptauftraggeber – die Sender (siehe Auftragsproduktion). Ihre Kernkompetenz liegt demnach in der Programmproduktion. Das heißt, ihre Vorteile gegenüber anderen Marktteilnehmern auf dem Bewegtbildmarkt bestehen in ihrer „produktionell-inhaltlichen Kompetenz“[6]. Speziell in ihrer „Fähigkeit Geschichten zu erzählen“[7] sowie in ihrem „Wissen um eine qualitätsentscheidende Dramaturgie“ und in der Realisierung aufwändiger Produktionskonzepte.[8] Um jedoch eine direkte Endkundenbeziehung im Internet aufbauen zu können, müssen sie sich nicht nur auf ein neues Terrain begeben (d.h. einen komplexen und volatilen Markt, der stetig wächst)[9], sondern sie benötigen zudem auch eine Vielzahl neuer Kompetenzen (z.B. Distributionskompetenz) sowie zusätzliche Ressourcen, um sich zukünftig auf dem neuen Bewegtbildmarkt positionieren zu können.

Wie gestaltet sich die derzeitige Situation der Produktionsunternehmen auf dem Bewegtbildmarkt?

Gegenwärtig führe ich eine Expertenbefragung mit zwanzig der führenden TV-Produktions-unternehmen in Deutschland durch. Meine bisherigen Zwischenergebnisse reflektieren die bereits dargestellten Erkenntnisse vorheriger Studien und es zeichnen sich derzeit folgende erste Tendenzen ab:

Den größten Einfluss der Digitalisierung auf die klassische Wertschöpfungskette nehmen die Produktionsunternehmen im Bereich der Distribution wahr, da neben einem zusätzlichen Angebot auch mehr Möglichkeiten existieren, die Inhalte zu transportieren. Beispielsweise finden Inhalte, die früher auf einem bestimmten Sendeplatz bei einem TV-Sender ausgestrahlt wurden, heute über alle Grenzen hinweg auf sämtlichen digitalen Kanälen Verwendung und werden von den Usern gestreamt, gelikt und geteilt. Dennoch sehen die Produktionsfirmen die Distribution nach wie vor noch stark im Einflussbereich der Sender, da sie einen „Verwertungsapparat“ benötigen, der für sie eine Art „Garantiezahlung“ darstellt.

Für die Mehrheit der befragten Produktionsunternehmen wird zukünftig die „business to business“ (B2B) Vertriebsstrategie im Internet an Bedeutung gewinnen. Allerdings werden sich ihrer Meinung nach mittel- bis langfristig die Auftraggeber ändern. Die „business to consumer“ (B2C) Vertriebsstrategie ist für einen Großteil der Unternehmen zwar interessant, aber nur, wenn Kosten und Nutzen übereinstimmen und sich erfolgsversprechende (Re-)Finanzierungs-modelle etabliert haben. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen kann sich zukünftig eine Kombination aus beiden Strategien gut vorstellen.

Was das Marktumfeld und neue Wettbewerber betrifft, so verfolgen die Produktionsfirmen mit großem Interesse die Aktivitäten der Multi-Channel-Networks (z.B. Tubeone Networks), da diese Networks vor allem junge Zuschauer unterhalten und an sich binden können. Jedoch werden die MCN’s weniger als Konkurrenz, sondern vielmehr als mögliche Partner gesehen, um gemeinsam neue Inhalte zu schaffen. Es wird davon ausgegangen, dass sich dieser Bereich zukünftig noch stark weiterentwickeln wird.

Als potenzielle neue Auftraggeber (B2B) wurden an erster Stelle die neuen Content-Aggregatoren wie Netflix, Amazon oder Sky genannt. Hier ist ein Großteil der befragten Unternehmen bereits in der Akqusitionsphase und es haben mit diesen Anbietern erste Orientierungsgespräche stattgefunden. Neuesten Presseberichten zufolge, hat Netflix die Serie ‚Shadowhunters’ von der Münchner Produktionsfirma Constantin Film AG erworben und stellt sie seit Januar 2016 auf seiner VoD-Plattform bereit.[10] Besonders hoffnungsvoll wird auch auf die Entwicklungen des Bezahlangebotes YouTube Red in den USA als zukünftigen Auftraggeber für Premium Content geschaut. An zweiter Stelle wählten die befragten Experten die Netzbetreiber (z.B. Vodafone, Unitymedia), da sie in Deutschland Millionen von Menschen über ihre Mobilfunk- oder über Breitbandverbindungen erreichen.

Durch die veränderten Marktbedingungen eröffnen sich für die Produktionsunternehmen mehr Möglichkeiten in Geschäftsfeldern wie zum Beispiel Apps, YouTube Channels, Games oder auch Virtual Reality tätig zu werden. Dem stehen alle Befragten sehr offen und interessiert gegenüber und testen seit Längerem neue Möglichkeiten aus. Vor allem bei YouTube wird beobachtet, wie beispielsweise kurze Online-Inhalte beschaffen sein sollten und wie die Gesetzmäßigkeiten dieser Plattform generell funktionieren.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Produzenten die Digitalisierung als große Chance verstehen. Mit der Entwicklung vom klassischen Fernsehproduzenten hin zum Content-Produzenten, der Inhalte nicht nur für Fernsehsender, sondern auch für neue Auftraggeber oder sogar für ein eigenes Portal produziert, können sie sich neue Marktanteile erschließen.
Für die Zukunft gilt es deshalb, den richtigen Content für den richtigen Markt zur Verfügung zu stellen und dafür neue Prozesse und Strukturen zu schaffen, sich auf einheitliche Standards zu einigen und ihr bestehendes Projektnetzwerk um Digital-Experten und -Agenturen zu erweitern.

In meiner aktuellen Expertenbefragung zeichnen sich neben weiteren Herausforderungen auch mögliche Lösungswege ab, auf die ich im Rahmen meiner Dissertation eingehen werde.

Dieser Beitrag ist Teil der regelmäßig erscheinenden Blogartikel der Doktoranden des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Er spiegelt weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wieder. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de.


Fußnoten:

[1] vgl. Laudon et. al. (2010), S. 606
[2] vgl. Baumgartner et. al. (2012), S. 221
[3] vgl. Przybylski (2010), S. 207
[4] vgl. Zabel / Rott (2009), S. 103
[5] vgl. Lang (2001), S. 79
[6] vgl. Fröhlich (2009), S. 267
[7] vgl. Przybylski (2010), S. 198
[8] vgl. Przybylski (2010), S. 171
[9] vgl. Martens / Barthel (2014), S. 31
[10] vgl. Constantin Film (2016)

Quellen:

  • Baumgartner, Daniel et. al. (2012): Strategieoptionen für Unterhaltungsproduzenten in Europa in: Ökonomie, Qualität und Management von Unterhaltungsmedien, Hrsg. Jörg Müller-Lietzkow, Baden-Baden, 1 2012.
  • Film, Constantin (2016): SHADOWHUNTERS: THE MORTAL INSTRUMENTS läuft ab heute auf Netflix, URL: http://www.constantin-film.de/ueber-uns/meldungen/shadowhunters-the-mortal-instruments-laeuft-ab-heute-auf-netflix-13-01-2016/, 21.01.2016.
  • Fröhlich, Kerstin (2009): Innovationssysteme der TV-Unterhaltungsproduktion: Komparative Analyse Deutschlands und Großbritanniens 2009.
  • Hess, Thomas (2007): Ubiquität, Interaktivität, Konvergenz und die Medienbranche: Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojektes intermedia 2007.
  • Lang, Günter (2001): Dis-Intermediation als Herausforderung für den Mediensektor – Gewinner, Verlierer und Reaktionsmöglichkeiten in: Medienwirtschaft und Gesellschaft, Hrsg. Matthias Karmasin et. al. 2001.
  • Laudon, Kenneth C. et. al. (2010): Wirtschaftsinformatik: eine Einführung 2010.
  • Martens, Dirk / Barthel, Nadine (2014): Digitalisierung der Filmproduktion und -verwertung. Der Markt und seine Potenziale, Auflage: 1. Auflage, Konstanz 2014.
  • Przybylski, Pamela (2010): Heute Partner – Morgen Konkurrenten?: Strategien, Konzepte und Interaktionen von Fernsehunternehmen auf dem neuen Bewegtbild-Markt 2010.
  • Wirtz, Bernd W. (2009): Medien- und Internetmanagement 2009.
  • Zabel, Christian / Rott, Armin (2009): Marktentwicklung als strategische Option für TV-Porduktionsunternehmen: Perspektiven, Probleme und empirische Evidenz in: Fernsehen im Wandel: Mobile TV & IPTV in Deutschland und Österreich, Hrsg. Jan Krone, Baden-Baden, 1 2009.

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Anett Göritz

Ehem. Assoziierte Doktorandin: Internetbasierte Innovation

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