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alexander von humboldt
30 April 2019| doi: 10.5281/zenodo.2847909

Mit Humboldt den digitalen Kosmos entdecken

Er war nicht nur ein Star, der mit Berichten zu seinen Reisen und Entdeckungen Vorlesungssäle füllte. Alexander von Humboldt gilt als letzter Universalgelehrter und gleichzeitig als Vorreiter der Interdisziplinarität in einer sich spezialisierenden Wissenschaft. Seine Akribie und sein Gespür für die tiefgreifenden Zusammenhänge zeichneten ihn aus. So hat sein Werk auch heute noch Gültigkeit – und das Potential, die Wissenschaften zur Selbstreflexion anzuregen. Zu seinem 250. Geburtstag erinnert Florian Lüdtke an Humboldts Vermächtnis – aus der Sicht eines Internet- und Gesellschaftsforschungsinstitut, das seinen Namen trägt.


„Überall geht ein frühes Ahnen dem späteren Wissen voraus.“

– Alexander von Humboldt, in Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung.

Bewunderung dem Entdeckergeist

Kaum ein anderer Wissenschaftler wurde im 19. Jahrhundert häufiger porträtiert, interpretiert und zuweilen auch instrumentalisiert wie Alexander von Humboldt. Nach keinem anderen wurden so viele Orte in Deutschland und darüber hinaus benannt. Humboldts Vielseitigkeit provozierte vielseitige Perspektiven auf ihn, was die Hunderten von Humboldt-Biografien belegen. Das wird sich gewiss im Jahr seines 250. Geburtstages fortsetzen. Was macht den Reiz an Humboldt aus?

Durch die Spezialisierung der Wissenschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts widmen sich ForscherInnen oft mit Fragen, die sie allein für ihre Disziplin zu beantworten versuchen. Jedoch ist der Entdeckergeist mit Weitblick – und weniger der sesshafte Bruder, der für die Preußen die Bildung reformierte – heute wieder gefragt. Liegt es an der Komplexität der Internetgesellschaft, dass das Universalgenie verstärkt Aufmerksamkeit bekommt? Auch unser Institut hat sich nach Alexander von Humboldt benannt, weil unsere Internetforschenden in unbekannte Welten aufbrechen, um die dynamischen Beziehungen zwischen Internet und Gesellschaft im digitalen Zeitalter zu erforschen und dabei die Grenzen ihrer Disziplin zu überwinden. Neben dem „Abenteurer“ steht Alexander von Humboldt vor allem für drei wesentliche Züge der Wissenschaft, die für uns bedeutsam sind: Er war Vorkämpfer der interdisziplinären, ganzheitlichen Forschung, Netzwerker und Wissenschaftskommunikator.

Interdisziplinäre Forschung

Da wären zum einen heutige Diskussionen um Klimaschutz und Nachhaltigkeit, für die Humboldt mit seinem neugierigen Blick in die Natur einen wichtigen Beitrag geleistet hat. In seinen Reden wies er auf die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur hin, da er bereits früh erkannt hat, dass der Mensch Teil der Natur ist und nicht darüber herrscht. Für dieses Verständnis des Zusammenspiels der Organismen konnte sich Humboldt nicht von Disziplinen beschränken lassen, musste als Geologe, Zoologe und Gesellschaftswissenschaftler zugleich agieren – seine Werke reichen von „Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein“ über botanische Forschungen („Florae Fribergensis specimen“, 1793) und zahlreiche physiologische Experimente hinzu dem 1797 publizierten zweibändigen Werk „Versuche über die gereizten Muskel- und Nervenfaser.“ (siehe AvH Portal der Staatsbibliothek zu Berlin)

Humboldt spezialisierte sich in den meisten Disziplinen der Naturphilosophie (heute Naturwissenschaften). Er war zugleich einer der wenigen, die vorschlugen, dass es eine Einheit zwischen den einzelnen Wissenschaftsbereichen gibt; dass sie – wie er in seinem Werk Kosmos schrieb – alle durch die Natur verbunden sind. Humboldts ganzheitliche Sicht auf die Natur, die Disziplinen überspannte und auch die Natur- und Geisteswissenschaften zusammenbrachte, ist verloren gegangen. Die Wissenschaften sind stärker denn je in eine Vielzahl von Fachdisziplinen aufgeteilt. Erst in jüngerer Zeit kommt es wieder zu mehr Interdisziplinarität. Für das Unterfangen, in einer hoch komplexen und globalen Internetgesellschaft über den eigenen disziplinären Tellerrand zu schauen, ist Humboldt ein wichtiges Vorbild.

Vernetzung

Vielen Menschen wird bang ums Herz angesichts des sich rasant entwickelnden technischen Fortschritts. Einzelne Disziplinen können nur Ansätze zum größeren Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen und Umbrüche liefern, so kann beispielsweise die Digitalisierung nicht nur technisch und Migration nicht nur ökonomisch verstanden werden. Der Blick zu Humboldt verspricht, dass mit einer interdisziplinären Sicht auf die digitale Gesellschaft moderne Phänomene und Entwicklungen besser eingeordnet werden können. Doch der Forscher, der auf dem Chimborazo sinnierte, dass alles wie „durch tausend Fäden“ (Wulf, 2015, S. 210) verbunden sei, ist angesichts der Komplexität der digitalen Gesellschaft und der ausdifferenzierten Wissenschaft heute nicht mehr realistisch. Die vielen Disziplinen können heute schlichtweg nicht in einer Person vereint werden.

Die globale Vernetzung durch das Internet lehrt uns, auch Forschung vernetzt zu verstehen. Mehr und mehr Daten können verbunden und auch von Forschenden mit neuen Methoden ausgewertet werden. Deshalb ist Humboldts Anspruch der holistischen Untersuchung für die Internet- und Gesellschaftsforschung als Vorbild zu verstehen. Für eine Einschätzung der gesellschaftlichen Veränderungen durch Internet, maschinelles Lernen und digitale Medien, braucht es einen informierten Diskurs um Konsequenzen sowie Gestaltungsmöglichkeiten. So wie Unternehmen, die sich beispielsweise im Bereich künstliche Intelligenz entwickeln wollen, sich nicht leisten können, nur InformatikerInnen zu engagieren, kann sich die Wissenschaft nicht leisten, in ihrem Kämmerchen zu forschen – es braucht eine stärkere Vernetzung in der Wissenschaft um einen interdisziplinären Blick auf die Digitalisierung zu werfen.

Auch in dieser Hinsicht ist Humboldt ein Vorbild. Er war mit in der ganzen Welt vernetzt und forcierte den wissenschaftlichen sowie den gesellschaftlichen Austausch über neueste Erkenntnisse. 1828 kamen rund 500 Forschende nach Berlin für eine Konferenz Humboldts, die die Forschenden aufforderte, miteinander statt zueinander zu sprechen. „Ihm schwebte eine interdisziplinäre Bruderschaft von Forschern vor, die ihr Wissen austauschten und teilten,“ schreibt Andrea Wulf in ihrer Humboldt-Biografie „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ (2015, S.249). In seiner Zeit in Russland lebte er diese Idee fort: In seinem Vortrag an der Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg rief er WissenschaftlerInnen auf, den Geomagnetimus global zu untersuchen. Der Aufruf war erfolgreich, drei Jahre später wurden fast zwei Millionen Beobachtungen zusammengetragen (S.272) – eine internationale  Zusammenarbeit, die unter dem Begriff „Magnetischer Kreuzzug“ bekannt ist. Des Weiteren unterstützte Humboldt junge Wissenschaftler wie Charles Darwin, Louis Agassiz, Joseph Dalton Hooker und Hermann Schlagintweit bei der Forschung – nicht nur mit Wissen, sondern mit Beziehungen und Ressourcen (S.274-295).

Wissenschaft kommunizieren

Neben seinem Netzwerk zu anderen WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und ins Bildungsbürgertum war Humboldt auch geübter Wissenschaftskommunikator. Er teilte seine Erkenntnisse und seinen globalen Blick auf die Natur mit einem nicht-wissenschaftlichen Publikum: Nach seinen Südamerikareisen hielt Humboldt 1927-28 mehr als 70 Vorträge in Berlin: 61 Vorträge vor 400 Studierenden und Lehrenden in der Berliner Universität. Zusätzlich präsentierte er seine Forschung in 16 Veranstaltungen in der Singakademie – im heutigen Gorki Theater. Diese berühmten Vorträge erreichten jeweils bis zu 1.000 ZuhörerInnen aus allen Bildungsschichten. Ihm lag viel daran, kostenlosen Zugang für alle zu ermöglichen, so erreicht er auch, dass Frauen teilnehmen konnten, obwohl sie aus preußischen Universitäten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgeschlossen waren. In zehn Kosmos-Lesungen zum Jubiläumsjahr 2019 greifen internationale WissenschaftlerInnen die verschiedenen Themen aus der Lesungsreihe Humboldts auf und behandeln diese aus aktueller Sicht.

Neben dem Aufruf, die Natur ganzheitlich zu betrachten, plädierte Humboldt auch dafür, keine zu starke Trennlinie zwischen der Wissenschaft und den Künsten zu ziehen. Neben seinen Aufschriften fanden sich zahlreiche Zeichnungen, die teilweise auch als erste Infografiken bekannt sind. „Niemals könnten Erkenntnis und Wissen ‚das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten’ – stattdessen ‘reifen sie Erstaunen, Aufregung und Ergriffenheit hervor’“, wird Humboldt in Andrea Wulfs Humboldt-Biografie (2015, S. 309) zitiert. Humboldt verband Dichtung, Wissenschaft und Kunst und beeinflusste so beispielsweise den Autor Henry David Thoreau. Humboldts Werk und Herangehensweise an Wissen ermutigte ihn, Naturwissenschaft und Dichtung in seinem Buch „Walden“ miteinander zu verbinden.


Infografik aus dem 19. Jahrhundert: Humboldts Naturgemälde

Um einen informierten Diskurs zu ermöglichen, sollten Forschende lernen, sich anschaulicher Methoden des Wissenstransfers zu bedienen. Gerade heute ist das wichtig, wie jüngst die ExpertInnen des Siggener Kreises betonten, da der Konsens in der Gesellschaft erodiert und „die Wissenschaft oft denen, die die Wissenschaft in Frage stellen, zu wenig entgegensetzt“. Neben erzählender Wissenschaftskommunikation kann der Versuch die Grenzen zur Kunst weniger streng zu ziehen, eine wichtige Anregung Humboldts sein. Kunst und Wissenschaft helfen sich gegenseitig bei der Entwicklung neuer Ideen, Methoden und Darstellungsformen. Sie können davon lernen, dass sie sich an verschiedene Zielgruppen wenden und trotzdem das Gleiche anstreben: Die Welt um uns zu erklären und zu hinterfragen. Digitale Technologien bieten dafür wunderbare Möglichkeiten. Kunstprojekte bedienen sich der Methoden der Datenauswertung, Visualisierungstechniken, die Tiefen des Webs sowie maschinellem Lernen. Die Forschung und Wissenschaftskommunikation könnte davon profitieren, verstärkt mit digitalen Darstellungsformen zu experimentieren.

Was nun?

Heute steht Humboldt für viele Dinge – er war Entdeckergeist, Umweltschützer und Humanist, er hat die Interdisziplinarität verteidigt und fing bereits früh an, Forschende untereinander sowie mit Entscheidungsträgern zusammen zubringen. Alexander von Humboldt steht jedoch auch für den leidenschaftlichen Erkenntnisgewinn – ein Aspekt, der die verschiedenen Rollen verbindet. Er führte unzählige Messungen durch und schrieb diese detailgetreu auf, er war Poet und ein offener Geist, der die Natur auf sich wirken ließ und er sparte eigene Gefühle in seinen Beschreibungen nicht aus. Das macht den Reiz an einem Forscher aus, über den wir auch heute noch begeistert schreiben.

Mit diesen Überlegungen zu Humboldt möchte ich drei Dinge anregen: Um die digitale Gesellschaft besser zu verstehen – und letztendlich damit unseren Gestaltungsspielraum innerhalb der digitalen Transformation zu erweitern – sollten wir ganzheitliche, interdisziplinäre Forschungsprojekte stärken. Humboldt hielt mit seiner Verschränkung der Disziplinen gegen die Spezialisierung in der Wissenschaft und plädierte für eine Einheit der Wissenschaft. Angesichts der Komplexität der verschiedenen disziplinären – juristischen, wirtschaftlichen, politischen, technischen, medienwissenschaftlichen etc. – Perspektiven auf Themen wie Datenschutz, Plattformen oder Anwendungen von KI, sollten wir mehr Zeit und Ressourcen in die Vernetzung von Forschenden investieren. Damit die Erkenntnisse auch die erreichen, die davon profitieren können, sollten die Ergebnisse der Forschung mit Hilfe von digitalen Methoden anschaulich und innovativ an verschiedene Zielgruppen kommuniziert werden. Denn Humboldt würde vermutlich nicht viel davon halten, dass 250 Jahre später die meist verbreiteste Form der Veröffentlichung schlecht formatierte PDFs sind.


Vielen Dank an Benedikt Fecher für das Feedback zum Artikel. Titelbild: Larissa Wunderlich.

Florian Lüdtke ist Koordinator für Wissenschaftskommunikation und Presse am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG).

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Florian Lüdtke

Ehem. Koordinator Wissenschaftskommunikation

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