Unsere vernetzte Welt verstehen
Kein Smartphone = Cringe Weirdo
Smartphones boykottieren Langeweile. Und Langeweile zu boykottieren heißt, einen existenziellen Zustand des Seins zu vernachlässigen. Wie wäre es mit Tagträumerei oder einem Nickerchen, wenn andere Feeds scrollen? In diesem Blogbeitrag berichtet Jascha Bareis von seinen Erfahrungen, seit er sich erst in diesem Jahr sein erstes Smartphone gekauft hat.
Seit Anfang dieses Jahres besitze ich neben meinem Brickphone nun auch ein Smartphone. Nach ständigem Widerstand gegen den schleichenden, aber beharrlichen Griff der Normalität gebe ich auf. Nicht aus Überzeugung, sondern wegen der Anstrengungen, die die andauernden Workarounds einfordern, um das Alltägliche zu bestreiten. Letztlich hat mich meine Bank dazu gezwungen, weil das SMS TAN-Verfahren, das nun nur noch über das Scannen von QR-Codes funktioniert, eingestellt wurde. Die Bank zu wechseln, nur, dass mich dann die nächste dazu zwingt, erschien mir ein aussichtsloses Unterfangen.
Es ist für Außenstehende schwer geworden, zu begreifen, wie man die Welt erlebt, wenn man sie ohne ein Smartphone begeht. Im Bereich Digital Governance gibt es derzeit viele Diskussionen über Themen wie Misinformation, die Plattformisierung sozialer Medien oder Machtakkumulation von digitalen Gurus wie Elon Musk. Aber all das wäre nichts ohne das Smartphone. TikTok, Instagram oder X gibt es nur wegen eben dieses Mediums, welches als Gatekeeper zwischen der analogen und der virtuellen Welt fungiert und uns im ständigen hybriden Zustand des Fotografierens, Chatten, Teilens, Scrollens im hier und dort einfängt.
Es geht nicht um Diskriminierung, sondern um Sein
Es geht nicht nur darum, dass man ohne Smartphone von der Gesellschaft ausgeschlossen wird (ja, wird man), sondern darum, dass man nicht an dem teilnimmt, was als allgegenwärtig und als selbstverständlich angesehen wird. Im Jahr 2023 benutzte 68 % der Weltbevölkerung ein Smartphone. 05:01 (!) Stunden ist die durchschnittliche Zeit, die Nutzer*innen mit ihrem Smartphone täglich verbringen, Tendenz steigend.
Anfangs boykottierte ich Smartphones wegen der Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013, da mir Privatsphäre ein Anliegen war. Aber mit der Zeit wurden meine Beweggründe grundsätzlicher, existenzieller gar, denn mir wurde immer mehr bewusst, wie Smartphones die Menschen schleichend veränderten. Und sie veränderten auch mich und die Art, wie ich von meinem Umfeld wahrgenommen wurde: von einem damaligen Trend-Schläfer zu einem cringen Weirdo, der nun von fassungslosen GenZ Blicken gelöchert wird, wenn meine Finger die knackenden analogen Tasten des NOKIA bearbeiten.
Mir fällt eigentlich keine andere Technologie ein, die die Erfahrungswelt in den letzten Jahrzehnten so durchsetzt hat wie das Smartphone. Diese fließende Durchdringung aller Poren des Alltags lässt sich nicht nur an Bildschirmzeiten festmachen, sondern vor allem daran, wie Smartphones unsere Wahrnehmung der grundlegendsten aller Kategorien der Existenz umgekrempelt haben. Da gäbe es einerseits strukturelle Auswirkungen auf demokratische Diskurse und Kommunikation (Kanzler Scholz witzelt jetzt auf TikTok, anstatt TikTok zu regulieren). Die individuellen Auswirkungen sind jedoch noch eindrücklicher, erleben wir sie doch emotional nah und in persona. Man bedenke Prozesse der Beschleunigung (Stress durch konstante Erreichbarkeit und die Komprimierung von Zeit und Ereignissen), Persönlichkeitsbildung (Schaffung digitaler Alter Egos, die wie Tamagotchis Pflegeeinheiten einfordern), Liebe (Ehrlichkeit und emotionale Verantwortung à la Ghosting auf Tinder), Schlaf (Selbstquantifizierung für “Qualitäts-Schlaf”), oder Krisenwahrnehmung (das allgegenwärtige “Gefühl”, dass die Welt immer furchtbarer werde gegenüber einer “guten alten Zeit”, weil wir konstant mit aufrüttelnden and apokalyptischen Feeds bombardiert werden – egal ob auf dem Klo oder beim Frühstücksei).
Es gibt aber kaum ein besseres Beispiel, um zu veranschaulichen, wie tiefgreifend Smartphones das Menschsein verändert haben, als das Phänomen der Langeweile.
Wo auch immer Du bist, sei doch woanders!
Ein Smartphone zu haben, bedeutet, Langeweile zu boykottieren. Oder zumindest wird es der Langeweile sehr schwer gemacht, sich im Alltag einzunisten, da Momente der Ruhe ständig durch eine penetrante App unterbrochen werden. Der Mensch ist wohl das einzige Wesen dieser Erde, das die Fähigkeit besitzt, sich zu langweilen. Denn es ist sich seiner Existenz bewusst und wird durch das Bewusstsein aufgefordert, eben diese Existenz zu reflektieren. In der Abwesenheit äußerer Reize gleiten wir in einen geistigen Schwebezustand der Belanglosigkeit, der den Kopf dazu animiert, abwegige und absurde Assoziationen zu spinnen. Langeweile ist positiv entlarvend, denn sie tritt nur durch einen Zustand der Entspannung ein, der dann überhaupt erst eine Tagträumerei zulässt. Es ist keine Abkehrung von der Welt, sondern das Öffnen für die Welt des lauernden Unbekannten – mit seinen Spielereien und neuen Verquickungen, ohne irgendeine Erwartungshaltung.
Ich bin überzeugt, dass Menschen, die sich langweilen können, besser mit sich selbst zurechtkommen. Denn einfach nur in ungezwungener Stille zu sein und dann zu bemerken, dass das Absurde an jeder Bushaltestelle lauern kann, ist für viele Menschen sehr schwierig geworden. Und das sagt viel über die kulturelle und mentale Verfassung unserer Konsumgesellschaft aus. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher drückte es einmal so aus:
Der Boykott der Langeweile als eine existenzielle Herausforderung ist nun abgeschafft. Wenn niemand sich langweilt, ist alles langweilig. An einer Bushaltestelle, wo man sich früher gelangweilt hätte, greift man jetzt sofort zum Telefon. Man überspielt den Terror der Langeweile.
Fisher schrieb als Kritiker über das, was er kapitalistischen Realismus benannte. Einen Zustand ständiger Übersättigung und nervöser Agitiertheit, “depressiver Hedonismus” – ohne dass sich irgendetwas Grundsätzliches ändere. Für die, die es weniger theoretisch mögen, erklärt hier Komiker Louis C.K. aus ähnlichen Beweggründen, warum er seinen Kindern kein Smartphone gibt:
Lehre mit TikTok-10Sek-Fingerfood
Als ich kürzlich an der Universität unterrichtete, fühlte ich mich doch zu sehr an Fisher und Louis CK erinnert. Ich stellte den Studierenden in der Klasse den Lesestoff des Semesters vor. Sie waren ernsthaft schockiert, als sie bemerkten, dass sie ganze wissenschaftliche Paper lesen mussten. Was folgt daraus? Muss man jetzt tiefgründige Texte in TikTok-10-Sekunden Fingerfood unterrichten? Ich hätte am liebsten mit weißer Kreide Fisher an der Tafel zitiert:
Die Defizit-Hyperaktivitätsstörung ist eine Pathologie, eine Pathologie des Spätkapitalismus – eine Folge davon, dass wir in Unterhaltungs- und Kontrollschaltkreise der hyperdigitalen Konsumkultur eingebunden sind.
Der Verzicht auf das Smartphone lässt einen schnell in einen konsumfeindlichen Punk mutieren. Absurderweise bin ich aber wegen des gelegentlichen Müßiggangs viel präsenter, konzentrierter und spielerischer, wenn ich wirklich etwas bearbeite. Sicher, Langeweile führt dazu, dass man sich unbequeme Fragen über sich selbst und die Welt stellt. Das ist nicht immer schön, aber dies mit dem Scrollen von Feeds zu verdrängen, behandelt die Symptome, nicht die Ursache. Wenn man mit einem solchen Zustand umgehen kann, entspringt Kontemplation und spielerische Energie ganz von selbst.
Absurderweise ist Langeweile selbst aus Sicht neoliberaler Prekarität gewinnbringend: Man gewinnt mehr mentale Widerstandsfähigkeit angesichts des Risikos ständiger persönlicher und gesellschaftlicher Belastung – nur durch den simplen Akt des Seins. Ich bin ziemlich sicher, dass ich viel weniger arbeite als andere. Bewusst etwas zu tun, während andere durch Feeds und Timelines scrollen, scheint ein guter Tausch zu sein.
Das Fasten von Alkohol, Sex oder Schokolade mag wagemutig sein. Boykottieren Sie doch mal das Smartphone für zwei Monate. Versuchen Sie es einfach. Zuerst wird es Ihnen schwer fallen, aber dann werden Sie die Welt und sich mit anderen Augen sehen. Nur auf Online-Banking werden Sie verzichten müssen – dass man hier nun zum Smartphone gezwungen wird, ist ziemlich skandalös.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
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