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Wahlkompass Digitales 2021
14 September 2021

Fehlende Digitalpolitik bei den Triellen der Kanzlerkandidat:innen – Eine Emanzipation der Wähler:innenschaft

Einblicke in die Vorhaben im Bereich der Digitalpolitik gibt es in den Triellen bislang nicht. Wer sich dennoch informieren möchte, ist bei uns richtig: Vier Forschende des HIIG und HBI schreiben über ihre Meinung zur Digitalpolitik und verweisen auf den Wahlkompass Digitales. Er gibt Journalist:innen und der Wähler:innenschaft die Möglichkeit, sich selbst ein Bild der Lage zu machen.

Mit großen Erwartungen haben wir eine inhaltlich dünne zweite Ausgabe des Triells um die Kanzler:innenschaft am vergangenen Sonntag verfolgt. Die im Vorfeld versprochenen Überraschungsmomente blieben aus, es war kaum Neues zu hören – speziell im Hinblick auf die Digitalisierung der Bundesrepublik blieb es, wenn überhaupt, bei Lippenbekenntnissen. 

Besonders vor dem Hintergrund der kürzlich verabschiedeten Cybersicherheitsstrategie der Bundesregierung bleiben aus digitaler sicherheitspolitischer Perspektive durchaus Fragen offen, vor allem kritische. Leider waren sehr wenige Antworten zu hören. Annalena Baerbock sprach von einem Kompetenzgewinn und möchte die Digitalisierung zur Chefinnen-Sache machen. Armin Laschet reanimierte die Forderung nach einem Digitalisierungsministerium, und Bundesminister Olaf Scholz prahlte mit einer KI, die mittlerweile in seinem Ministerium zum Einsatz komme. Für die drei Kandidat:innen war zudem klar, dass wir eigentlich längst in der Mitte eines dringend benötigten Digitalisierungsschubes stecken müssten. In der Diskussion sahen die Kontrahent:innen durch die Bank von einer Konkretisierung ihrer Pläne für die Zuschauer:innen ab. Auch die in die Runde getragene Kritik am Digitalpakt für Schulen wurde lediglich leicht touchiert. Komplett unberücksichtigt blieb der Zustand der digitalen Lehre an Universitäten, obwohl hier massiver Handlungsbedarf herrscht. Daneben stehen auch technische Fragen in Bildung und Wissenschaft zur Debatte: Wie wollen die Kandidat:innen mit Open Access, Open Science und Open Data umgehen? 

Aussagen zu Hate Speech, Presse- und Meinungsfreiheit, Unterdrückung von Minderheiten im digitalen Raum und Fake News suchten wir vergebens. Auch der Schutz der Wahlen vor Einmischung durch Drittstaaten, das inzwischen eigentlich recht präsente Thema der ethischen Verwendung von Künstlicher Intelligenz, insbesondere der Aspekt der algorithmischen Diskriminierung (ZDF Magazin Royale, 10.9.), fand am Sonntagabend keinen Platz. Dabei sind es gerade diese Themen, die in Wissenschaft und Öffentlichkeit derzeit erheblich an Raum einnehmen und großen Handlungsbedarf aufzeigen. Dass sich nun im jüngst vorgelegten 100-Tage-Plan der Union keine der 19 vorgeschlagenen Maßnahmen um die Digitalisierung dreht, folgt der gleichen Schweigsamkeitslogik. 

Ist die Frage nach konkreten Aussagen zu Digitalthemen in einem Triell zu schwer? Gibt es tatsächlich so wenig Antworten auf diese Fragen? Gerade dann – sollte man meinen – wären sie doch überfällig, wenigstens ein Versuch ihrer Beantwortung elementar. 

Mehr Antworten zu digitalen Themen

Wie sieht es also wirklich mit dem Netz in Deutschland aus? Forscher:innen von Leibniz-Zentrum für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) haben in diesem Zusammenhang heute beim Internet Governance Forum Deutschland 2021 einen neuen Bericht zur Lage des Internets in Deutschland vorgestellt. In diesem wird mit Hilfe der UNESCO Internet-Universalitäts-Indikatoren die aktuelle Lage des Internets auf Menschenrechte, Offenheit, Zugänglichkeit und Multiakteur:innenbeteiligung hin geprüft.

In dem Bericht wird deutlich, dass Digitalisierung in Deutschland infrastrukturell aber auch mit Blick auf Kompetenzen noch Luft nach oben hat. Ein Beispiel: In keiner der Debatten wurde substantiell über digitale Gewalt und Hatespeech gesprochen, dabei zielt diese nicht selten auf das bewusste Silencen von marginalisierten Stimmen und Communities. Über eine allgemeine Ablehnung von Rassismus ging keines der Trielle hinaus. Kein Wort wurde dazu über intersektionale tradierte Diskriminierungsstrukturen verloren, die offline wie online zunehmen und teils algorithmisch amplifiziert werden. Auch das Thema Online-Radikalisierung und Antifeminismus findet entgegen der Debatte nicht statt, noch weniger die Frage nach inhärent diskriminierender Künstlicher Intelligenz. Überhaupt wurde, obwohl eine wesentliche Zukunftsfrage, das Thema Internet Governance noch nicht einmal gestreift. 

Wahlkompass Digitales: Eine Emanzipation der Wähler:innenschaft 

Wie werden also diese und andere Themen im Bereich Digitalisierung in den Parteiprogrammen behandelt? Um die Übersicht zu erleichtern, haben wir den Wahlkompass Digitales entwickelt: das Online-Tool markiert die Textstellen in sechs Parteiprogrammen, die sich um die Aspekte der Digitalpolitik drehen. Mit ihm können Wähler:innen und Journalist:innen mit wenigen Klicks die Vielzahl an bisher öffentlich kaum diskutierten Digitalthemen finden und die einzelnen Wahlprogramme untereinander vergleichen. 

Wir haben mit dem Wahlkompass beispielsweise ermittelt, dass fast alle Parteien  von der Notwendigkeit sprechen, das Bundesamt für Sicherheit als unabhängige Cybersicherheitsbehörde zu stärken. Genauso fallen in den Programmen einzelne wichtige Schlagwörter wie Fake News, Hate Speech und Meinungsfreiheit im Internet auf. Desinformationskampagnen werden teilweise als Bedrohungen anerkannt. Hier will sich die SPD sogar für Regelungen einsetzen, „um strafbare Online-Hassreden effektiv zu bekämpfen” und verspricht, europäische Frühwarnsysteme auszubauen. Des weiteren sehen alle Parteien den Bedarf, Forschung zu gängigen Zukunftsthemen wie Künstlicher Intelligenz oder Quantencomputing zu intensivieren. Alle scheinen bereit zu sein, Raum und Mittel dafür zur Verfügung zu stellen, doch es hakt noch an den konkreten Anwendungsfällen in den Programmen. 

Zur Digitalisierung des Forschungssystems äußern sich nur drei von sechs Parteien. Die Linke will „Open Access” durchsetzen, also einen kostenfreien Zugang für Forschungspublikationen. Die SPD begrüßt „die verstärkte Veröffentlichung von Inhalten unter offenen und freien Lizenzen” und verspricht mehr Fördergelder für Open Science und Wissenschaftskommunikation. Die Grünen gehen hier einen Schritt weiter und fordern, dass der Zugang zu Forschungs- und Bildungsdaten unter dem FAIR Data Prinzip erleichtert werden soll. Im Gegensatz dazu äußern sch die FDP, AfD und CDU/CSU zu den Themen der Open Science gar nicht. 

Freilich gibt es noch Hoffnungen für das letzte Triell, doch scheint der allgemeine Themenstau auch über die Digitalisierung hinaus inzwischen zu groß für das Format zu sein, um über konkrete Lösungsansätze zu diskutieren. Die Informationen und Pläne zu den ausgelassenen Themen werden sich die Wähler:innenschaft wohl oder übel selbst suchen müssen – für alles mit Digitalbezug raten wir natürlich zur Benutzung unseres Kompasses, einen Anfang haben wir bereits in dieser Pressemitteilung gemacht. 

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Moritz Timm

Ehem. Projektkoordinator | Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Nataliia Sokolovska

Forschungsprogrammleiterin: Wissen & Gesellschaft

Katharina Mosene

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: AI & Society Lab

Freia Kuper

Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Wissen & Gesellschaft

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