Zum Inhalt springen
rasheed-kemy-oqY09oVTa3k-unsplash
08 Juli 2020

Die Corona-Warn-App sollte und kann ihre Chancen und Risiken besser erklären

Die Warn-App zur Kontaktverfolgung von frisch Corona-Infizierten wurde innerhalb der ersten drei Wochen nach dem Launch gut 15 Millionen Mal heruntergeladen. Die meisten dieser Downloads dürften im Moment auch aktiviert sein. Die tägliche Zahl neuer Installationen liegt inzwischen aber nur noch bei gut Hundertausend – wenn dieser Prozess sich nicht wieder deutlich beschleunigt wird es Monate dauern bis zumindest etwa ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland die App nutzen wird.

von Felix G. Rebitschek und Gert G. Wagner


Unklar ist in der Tat, welchen Nutzen der Baustein Warn-App in der Pandemie-Strategie in Deutschland haben wird. Klar ist, sie ersetzt nicht die gegenwärtigen Einschränkungen. Aber so lange eine Corona-Impfung oder eine wirksame Behandlung von Erkrankten nicht in der Gesundheitsversorgung angekommen sind, bietet die App eine Hoffnung, die Pandemie in Schach zu halten – neben evidenzbasierten Maßnahmen wie Mindestabstand und dem Verbot von Großveranstaltungen. Die App ermöglicht es schlicht und einfach, einen unbekannte Menschen schnell zu warnen.

Der Nutzen der Kontaktverfolgungs-App auf Bevölkerungsebene hängt direkt von einer frühzeitigen, weit verbreiteten und andauernden Nutzung ab. 

Da es keine Erfahrungen mit einer solchen Warn-App gibt, ist man zur Abschätzung ihrer Wirkung auf Simulationen angewiesen. Derartige Computer-Modelle beruhen natürlich auf zahlreichen Annahmen und jedes Ergebnis kann leicht kritisiert werden. Schaut man sich nicht nur die vielzitierte Oxford-Studie an, sondern auch ältere Arbeiten, sieht man, dass in der Tat eine Mehrheit der Menschen die Warn-App installieren müsste, wenn eine deutliche Wirkung erzielt werden soll. 15 Millionen Nutzende sind erfreulich viele, aber es sollten zwei- oder dreimal so viele werden, wenn wir mit Hilfe der App besser auf eine zweite große Infektionswelle vorbereitet sein wollen. 

Viele verschiedene Umfragen zeigen, dass etwa der Hälfte der Menschen in Deutschland die App nicht nutzen wollen. Um eine breitere Akzeptanz zu erreichen, ist es wichtig, die Chancen und Risiken der deutschen Warn-App verständlich zu kommunizieren, um bei mehr Smartphone-Besitzer*innen eine informierte Akzeptanz zu erreichen und damit den gesellschaftlichen Nutzen der App zu erhöhen. 

Die Schwachstellen der App

Die App selbst, die darin erhaltenen Erläuterungstexte sowie die offiziellen Erläuterungen (FAQ) lassen zwei zentrale Aspekte offen, die verständlicher verdeutlicht werden sollten.

  1. Die Auswirkungen der begrenzten (maximalen) Verbreitung der App sind durchaus beachtlich. Würde jeder Mensch, der zurzeit ein geeignetes Smartphone in Deutschland besitzt (etwa 60 Prozent der Bevölkerung), diese App nutzen, betrüge die Wahrscheinlichkeit, wenn sich zwei Menschen treffen, etwa 36 Prozent (60% * 60%), dass beide die App nutzen. Dies gilt unter der vereinfachenden Annahme, dass die App regional und sozial gleichartig genutzt wird. Damit könnten immer noch 64 Prozent der kritischen Kontakte (Risiko-Begegnungen) von der App nicht erfasst werden – selbst wenn sie perfekt funktionierte. Doch genau das tut sie nicht
  2. Auf Basis zweier Bluetooth-Signale lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen, ob ein Kontakt kritisch genug für eine Infektion der Telefonbesitzer*innen war. Als Ergebnis der bisherigen Tests konnten unter Verwendung verschiedener Mobilfunkgeräte laut der Bundesregierung (Corona-Warn-App F.A.Q.) in den untersuchten Szenarien nur rund 80 Prozent der Begegnungen richtig – als kritischer (unter 1,50 Meter, genügend Kontaktzeit) oder unkritischer Kontakt – erfasst werden. 

80 Prozent hört sich hoch und gut an, aber so einfach ist es nicht. Bis empirische Testergebnisse zur neuesten Version der App-Erkennungstechnologie vorliegen, lässt sich das Potenzial der App am besten unter dem Gesichtspunkt einschätzen, dass etwa eine von fünf unkritischen, aber auch eine von fünf kritischen Begegnungen entsprechend verkehrt eingeschätzt wird (Fehlersymmetrie wird angenommen).

Was bedeutet das? Stellen wir uns einen Tag im Zuge einer weiteren Infektionswelle vor. 1.000 unerkannte Neuinfizierte in einer Stadt wie Berlin im Durchschnitt gelangen leicht in eine Bluetooth-Distanz zu 20 anderen Menschen. Nähme man für alle Berliner Bezirke eine sehr hohe Abdeckung der Bevölkerung mit der App von 60% an, würden 7.200 von 20.000 potentiell infektiösen Kontakten erfasst. Abhängig vom individuellen Verhalten könnten 10 Prozent der erfassten Kontakte kritisch sein (sie wären nah und langanhaltend genug). Aber nicht alle, sondern nur 80 Prozent dieser kritischen Kontakte würden erkannt. Hiernach würden die Berliner Gesundheitsämter mit etwas weniger als 600 Anfragen täglich konfrontiert sein – eine wahrscheinlich zu bewältigende Anzahl und ein Erfolg im Sinne der Unterbrechung von Infektionsketten. 

Aber es kämen aufgrund der oben beschriebenen Ungenauigkeit der Bluetooth-Messung noch knapp weitere 1.300 Alarme pro Tag dazu, die Fehlalarme wären, die aber – da man das ja nicht weiß – alle bearbeitet werden müssten (siehe Grafik). Die Wahrscheinlichkeit von Fehlalarmen hängt dabei massiv vom individuellen Kontaktverhalten ab, d.h. wie gut jeder Einzelne die Abstandsregeln einhält: Wären nur 2 Prozent aller erfassten Kontakte wirklich kritisch (zu nah, zu lang), wären 92 Prozent aller Warnungen echte Fehlalarme. Wären hingegen 20 Prozent der Kontakte kritisch, wären nur 50 Prozent aller Warnungen Fehlalarme. 

C:\Users\rebitschek\Desktop\NFT_Corona.png

Bislang fallen Fehlalarme nicht auf, da bei gut 15 Millionen App-Nutzenden (gut 18 Prozent der Gesamtbevölkerung) nur gut drei Prozent der tatsächlichen Kontakte überhaupt erfasst werden. Da es außerhalb der neuen Hotspots im Moment nur wenige hundert Neuinfektionen pro Tag gibt, sind auch nur sehr wenige Menschen von Alarmen betroffen. 

Doch selbst wenn die Bearbeitung von Fehlalarmen die öffentlichen Gesundheitsdienste nicht überlastet, wird sich herumsprechen, wenn die App mehr Fehlalarme als zutreffende Warnungen anzeigt. Bei vielen zutreffenden Warnungen stellt sich dann durch Testen heraus, dass sie zu keiner Infektion geführt haben. Wenn viele von uns selbst oder im Kollegen- und Freundeskreis merken, dass es viele Fehlalarme gibt, wird die Frage relevant  wie viele Apps vorsichtshalber deaktiviert werden oder die Alarme schlichtweg nicht mehr beachtet werden?     

Nutzen der App steigt mit Nutzungsdichte

Der Nutzen der App für urbane Regionen und Menschen, die viele soziale Kontakte pflegen, sollte betont werden. Umgekehrt muss klar sein, bei geringer Bevölkerungsdichte (zum Beispiel im ländlichen Raum) und weniger App-Abdeckung wird der Nutzen deutlich schwerer zu erreichen und vor allem plausibel zu machen sein.  

Die Entwickler*innen von SAP, der Deutschen Telekom und vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) arbeiten daran, die Güte der Erkennung von Begegnungen zu verbessern sowie die Smartphone-Kompatibilität auszuweiten und eine Interoperabilität mit europäischen Lösungen wird angestrebt. Bei den technischen Verbesserungen sollten aber vor allem die Fehlalarme in den Blick genommen werden. Die hinreichende Erkennung kritischer Situationen ist zentral, um jede Infektion zurückverfolgen zu können. Aber Fehlalarme werden nicht nur die Gesundheitsdienste belasten, sondern vor allem den Umgang mit Risikowarnungen, das Vertrauen in und die Nutzung der App unterminieren.  

Datenspenden können technische Verbesserungen ermöglichen

Ein ganz konkreter Weg zur Verbesserung der App wird von der Bundesregierung angestrebt, wie Kanzleramtsminister Braun am 17. Juni in einer Fragestunde des Bundestags erklärte. App-Nutzende könnten – völlig freiwillig und anonym – die in ihrem Handy gespeicherten Daten dem Robert Koch-Institut „spenden“, um mit Analysen dieser Daten die Zuverlässigkeit der Klassifikation von kritischen und unkritischen Kontakten zu erhöhen. Noch besser wäre es, wenn man als App-Nutzer*in auch einige Zusatzinformationen, wie etwa Geschlecht, Alter und Bundesland, freiwillig und völlig anonym weitergeben könnte. Dann könnte statistisch viel zuverlässiger als mit Befragungsstudien abgeschätzt werden, welche Gruppen in welchen Regionen die App tatsächlich nutzen. 

Technische Verbesserungen werden die Wirksamkeit der App erhöhen, aber noch wichtiger dürfte eine Risikokommunikation sein, die dafür sorgt, dass die Bürger*innen die Chancen und Risiken der App verstehen, möglichst viele sie nutzen und möglichst wenige, die einen Risikoalarm erhalten, sich unnötigerweise beunruhigen lassen. Um eine informierte Entscheidung über die Nutzung der App sowie einen besonnenen Umgang mit ihr zu erreichen, sollte vor dem App-Download und zu Beginn der Nutzung die begrenzte Güte der Kontakterkennung, die daraus resultierenden Potenziale sowie die absehbaren Handlungsmöglichkeiten für Nutzende besser erklärt werden als gegenwärtig. Die nachfolgende Infobox gibt ein Beispiel, wie man die Auswirkungen der Nutzungsentscheidungen vieler Menschen für den Einzelnen verdeutlichen könnte.

Grenzen der App transparenter machen

Mit Blick auf die Handlungsmöglichkeiten sollte die App darauf hinweisen, dass die grüne Mitteilung „Niedriges Risiko“ keineswegs bedeutet, dass man frei von kritischen Kontakten war, da bei einer App-Abdeckung von unter 70 Prozent in der Bevölkerung die Mehrzahl der kritischen Kontakte übersehen wird. Tatsächlich sollte die aktuelle Leistungsfähigkeit tagesaktuell veranschaulicht werden. Etwa so: „Im Moment nutzen etwa X Millionen Menschen in Deutschland diese App, dadurch können im Durchschnitt nur maximal Y Prozent der kritischen Kontakte überhaupt erfasst werden.“ 

Und umgekehrt, wenn eine rote Warnung geben wird, kann verständlich erklärt werden, wie wahrscheinlich ein Fehlalarm bei der Kontakterfassung ist, dass nicht jeder kritische Kontakt mit einem Infizierten zu einer Infektion führt und dass man nicht in Hektik verfallen muss, sondern in Ruhe eine Infektion abklären lassen sollte – und sich gegebenenfalls einfach freuen sollte, wenn man nicht infiziert ist. Denn durch die Abklärung hat man in jedem Fall nicht nur sich, sondern auch anderen geholfen.

Wir behaupten: Durch nutzerorientierte Informationsstrategien wie die skizzierten wird die Nutzung der App nicht gebremst, sondern die Nutzung wird steigen. Die Vertrauenswürdigkeit der App wird davon profitieren, transparent über ihre Grenzen zu sein, denn Perfektion wird ohnehin nicht erwartet, aber Offenheit.


Professor Gert G. Wagner ist Mitglied im Sachverständigenrat für Verbraucherfragen und Research Associate des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG). 

Dr. Felix G. Rebitschek leitet das Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg

Gert G. Wagner, Dr.

Ehem. Assoziierter Forscher: Wissen & Gesellschaft

Aktuelle HIIG-Aktivitäten entdecken

Forschungsthemen im Fokus

Das HIIG beschäftigt sich mit spannenden Themen. Erfahren Sie mehr über unsere interdisziplinäre Pionierarbeit im öffentlichen Diskurs.

HIIG Monthly Digest

Jetzt anmelden und  die neuesten Blogartikel gesammelt per Newsletter erhalten.