Unsere vernetzte Welt verstehen
Diamond OA: Für eine bunte, digitale Publikationslandschaft
“Wer schreibt, der bleibt” – zumindest, wenn das Geschriebene bei einem angesehenen Verlag gedruckt wird. Dies gilt besonders in der Wissenschaft, wo Impact Faktoren und der Ruf einer Zeitschrift oder eines Verlags oft über wissenschaftliche Karrieren entscheiden. Open-Access Modelle wie “Diamond OA” setzen sich für eine buntere und vielfältigere Publikationslandschaft ein. Welchen Einfluss können Projekte wie diese auf die Art wie wir (wissenschaftlich) publizieren wirklich haben?
Für große Verlage ist dies ein lukratives Geschäft, und der Trend zu Open Access hat daran wenig geändert. Statt die Kosten nur auf die Leser*innen abzuwälzen, müssen nun auch die Autor*innen in die Tasche greifen, um überhaupt veröffentlichen zu können. Zwischen 2015 und 2018 zahlten Wissenschaftler*innen schätzungsweise über eine Milliarde US-Dollar allein für sogenannte Article Processing Charges an die fünf großen Verlage Elsevier, Sage, Springer-Nature, Taylor & Francis und Wiley. Zusätzlich betreiben diese Verlage Geschäfte mit Abonnements, der Lizenzierung von Publikations-Workflows und der Sammlung sowie Auswertung von Daten. Letzteres stellt nicht nur ein Datenschutzproblem dar, sondern gefährdet auch die Wissenschaftsfreiheit (siehe hier, hier und hier). Die Publikationslandschaft ist von wenigen dominierenden Akteur*innen geprägt, die die Budgets der Universitätsbibliotheken beanspruchen. Wer sich dem entgegenstellt, sei es ein*e Wissenschaftler*in oder Bibliothekar*in, kämpft gegen die etablierten Praktiken und Zwänge der Wissenschaft – oft vergeblich.
Dennoch gibt es abseits dieser abgeschotteten Landschaft Wissenschaftler*innen, die Teile des Bodens zurückerobern und das digitale Ökosystem bunt, vielfältig und für alle zugänglich machen: keine Zugangsbeschränkungen, keine Abonnementgebühren, keine Article Processing Charges. “Diamond OA” nennt sich dieses Modell, und es sind vor allem wissenschaftsgeleitete Publikationen, die sich weigern, künstliche Zugangsbarrieren zu errichten. Sie schätzen die Freiheit des unabhängigen Publizierens, können mit Formaten und Schreibprozessen experimentieren und inhaltliche Schwerpunkte frei wählen. Sie befreien sich weitgehend von wirtschaftlichen Zwängen, denen kommerzielle Verlage unterliegen und die oft im Widerspruch zu wissenschaftlichen Werten stehen. Allerdings endet die Offenheit dieser bunten Landschaften meist dort, wo es darum geht, sich von den großen, wirtschaftlich orientierten Verlagen abzugrenzen und nicht vereinnahmen zu lassen.
Der Preis der digitalen Vielfalt
Auch Diamond OA hat seinen Preis. Wissenschaftliches Publizieren verursacht Kosten und erfordert Arbeit, die bezahlt werden muss. Geld spielt also am Ende doch eine Rolle, und die Frage nach der Finanzierung bleibt. Viele Diamond OA-Zeitschriften werden von der ehrenamtlichen Arbeit ihrer Wissenschaftler*innen getragen. Sie sind an Universitäten oder Forschungseinrichtungen eingebunden, die ihnen gegebenenfalls bei einigen Aufgaben unter die Arme greifen und Software sowie Server bereitstellen. Die genauen Kosten bleiben meist im Dunkeln, Budgets werden improvisiert, und oft genug funktioniert das eine Weile – bis es vielleicht nicht mehr funktioniert.
Warum nehmen das dennoch so viele Menschen in Kauf? Ein Teil der Antwort könnte im Selbstverständnis von Wissenschaftler*innen und ihrem Verhältnis mit Verlagen oder Zeitschriften liegen. Wissenschaftler*innen verfolgen in der Regel keine kommerziellen Interessen, wollen vor allem, dass die Ergebnisse ihrer Forschung weit verbreitet und rezipiert werden. Die Vorstellung, dass wissenschaftliche Verlage oder Zeitschriften dieses Selbstverständnis als nicht-kommerzielle Akteure teilen, scheint angesichts der Realitäten im wissenschaftlichen Publikationswesen fast schon naiv. Dennoch ist dies ein wissenschaftliches Ideal, das vermutlich viele teilen. Aber ist das Wissenschaftssystem überhaupt darauf ausgelegt, ein solches Verständnis des wertegeleiteten Publizierens nachhaltig umzusetzen? Und wenn ja, wie müsste ein entsprechendes Modell aussehen?
Für alle verfügbar, von allen bezahlt
Im Kontext des gesamten Publikationssystems ist der Markt für wissenschaftliche Veröffentlichungen vergleichsweise begrenzt. In erster Linie sind es Wissenschaftler*innen, die die veröffentlichten Inhalte lesen, während wissenschaftliche Institutionen, hauptsächlich Hochschulen und ihre Bibliotheken, für den Kauf, die Lizenzierung und das Abonnement zuständig sind.
Die Welt der Bibliotheken ist größtenteils einer Erwerbungslogik unterworfen, die wirtschaftlichen Kriterien folgt. Es geht um Austauschverhältnisse: Eine bestimmte Summe X wird bezahlt, um im Gegenzug ein Buch, eine Zeitschrift oder einen Zeitschriftenartikel zu erhalten. Selbst kollektive Finanzierungsmodelle entziehen sich nicht vollständig dieser Logik, sondern verteilen die Kosten für den Erwerb von Leistungen oder Produkten auf eine Vielzahl von Akteur*innen. Im Fall von Open-Access-Veröffentlichungen ergibt dies Sinn, da die gesamte Gemeinschaft sie lesen und nutzen kann. Es sei jedoch angemerkt: Wenn nicht genügend Geld aufgebracht wird, kann es auch keine Open-Access-Veröffentlichung geben.
Viele Diamond-OA-Veröffentlichungen funktionieren jedoch anders. Selbst ohne eine gesicherte Finanzierung setzen sie in der Regel ihre Arbeit fort, nur eben unbezahlt. Gerade wegen der freien Verfügbarkeit von Artikeln und Büchern ohne Article Processing Charges (APC) und Paywall vertreten einige Bibliotheken die Ansicht, dass sie aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit kostenfreies Open Access nicht finanzieren dürfen. Ob dies tatsächlich zutrifft, scheint bislang niemand genau zu wissen. Eine vertiefte rechtliche Auseinandersetzung mit dieser Frage fehlt bisher, und genau diese Lücke gilt es zu schließen.
Publizieren als ein Projekt von Vielen
Eine wissenschaftliche Publikation entsteht durch die Zusammenarbeit verschiedener Akteur*innen: Wissenschaftler*innen, Bibliotheken und Verlage. Alle drei Gruppen sind voneinander abhängig. Ohne Wissenschaftler*innen gäbe es keine Manuskripte und Qualitätskontrolle, ohne Verlage weniger (oder keine) Sichtbarkeit und ohne Bibliotheken keine geordneten Wissensbestände. Jede dieser Akteursgruppen bringt Kenntnisse, Erfahrungen und Arbeitsabläufe ein, die, wenn sie gemeinsam genutzt werden, zu herausragenden Ergebnissen führen können. Statt wirklich zusammenzuarbeiten arbeiten diese Gruppen aber oft nebeneinander her, obwohl die meisten von ihnen das gleiche Ziel verfolgen: qualitativ hochwertige Publikationen unter fairen Bedingungen zu schaffen. Die Kriterien für hochwertige Publikationen und faire Bedingungen festzulegen ist dabei ein fortlaufender Prozess, dem die beteiligten Akteur*innen kontinuierlich nachgehen müssen.
Daraus ergeben sich eine Vielzahl von Fragen: Wie wäre es möglich, wissenschaftliches Publizieren als eine gemeinschaftliche Aufgabe zu gestalten und die vorherrschende Erwerbungslogik zu hinterfragen? Benötigt es dafür eine eigenständige Struktur und, wenn ja, in welcher Form? Wie sollte deren Governance gestaltet werden? Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft hat jüngst zusammen mit dem Verfassungsblog hierzu das Projekt “ELADOAH” gestartet. Dort wird zunächst ein systematischer Überblick über erfolgreiche Modelle gemeinschaftlichen Publizierens erarbeitet. Darauf aufbauend entwickelt das Projektteam Ideen und diskutiert mit den beteiligten Akteur*innen die Möglichkeiten und Reichweite dieser Modelle. Wissenschaftler*innen, Bibliotheksmitarbeiter*innen und Verlage sind dazu aufgerufen, gemeinsam mit dem Projekt über ein Organisationsmodell für eine gemeinschaftlich getragene Diamond-Open-Access-Publikationsinfrastruktur in Deutschland nachzudenken, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht wird. Nur so kann wissenschaftliches Publizieren wirklich zu einem Gemeinschaftsprojekt werden, das wissenschaftlichen Werten wie Kooperation und Offenheit folgt und bei dem kommerzielle Interessen in den Hintergrund treten.
Autor*innen
Evin Dalkilic ist Head of Publishing beim Verfassungsblog und Teil des ELADOAH Projektteams.
Marcel Wrzesinski ist Open-Access-Referent und leitet das BMBF-Projekt ELADOAH.
Weitere Informationen
Der Antrag zum Forschungsprojekt mit detaillierten Informationen ist auf Zenodo veröffentlicht: https://doi.org/10.5281/zenodo.10409394
Transparenzhinweis: Die Autor*innen dieses Blogbeitrags sind Teil des Projektteams von ELADOAH.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de
Jetzt anmelden und die neuesten Blogartikel einmal im Monat per Newsletter erhalten.
Offene Hochschulbildung
Zwischen Zeitersparnis und Zusatzaufwand: Generative KI in der Arbeitswelt
Generative KI am Arbeitsplatz steigert die Produktivität, doch die Erfahrungen sind gemischt. Dieser Beitrag beleuchtet die paradoxen Effekte von Chatbots.
Widerstände gegen Veränderung: Herausforderungen und Chancen in der digitalen Hochschullehre
Widerstände gegen Veränderung an Hochschulen sind unvermeidlich. Doch richtig verstanden, können sie helfen, den digitalen Wandel konstruktiv zu gestalten.
Von der Theorie zur Praxis und zurück: Eine Reise durch Public Interest AI
In diesem Blogbeitrag reflektieren wir unsere anfänglichen Überlegungen zur Public Interest AI anhand der Erfahrungen bei der Entwicklung von Simba.