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The Consent Fallacy
16 August 2023

Der Irrtum der Einwilligung

Der Mensch ist nicht die rationale Kosten-Nutzen Analyse-Maschine, zu der ihn Gesetze und Ökonomie oft machen wollen. Doch wenn es um Grundrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht, liegt es allein an Dir, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Unser Gehirn ist fehlbar und es gibt kein rechtliches Sicherheitsnetz. Brauchen wir einen besseren Schutz? Verlangt der Gesetzgeber zu viel von uns?

Einführung

Das weit verbreitete Privacy Paradox (dt. Datenschutzparadoxon) beschreibt, wie Menschen trotz Bedenken hinsichtlich ihrer Privatsphäre fröhlich – auch sensible – Daten weitergeben. Doch wie paradox ist dieses Verhalten wirklich? Bestehende europäische Bestimmungen über die Verarbeitung personenbezogener Daten stützen ihre unerschütterliche Barriere gegen Ausbeutung und Missbrauch auf die Einwilligung des Betroffenen. Dass Menschen – je nach Grad des potenziellen Risikos – für sich selbst entscheiden können, ist in anderen Lebensbereichen allerdings nicht unbedingt die Norm. Drogen unterliegen Prohibitionen und Altersbeschränkungen, schädliche Lebensmittelzutaten und Pestizide sind verboten, und es hängt nicht von der Stimmungslage der oder des Einzelnen ab, ob man sich im Auto anschnallen möchte. Können Verbraucher*innen die Qual der Wahl selbst tragen? Oder haben wir uns beim Schutz von Menschenrechten in einem Einwilligungsirrtum verrannt?

Aufmerksamkeit, bitte!

Darf ich vorstellen: das werbebasierte Geschäftsmodell. Die Aufmerksamkeitsökonomie bietet ‘kostenlose’ digitale Dienste im Austausch für kognitive Nutzfläche. Nur wenn wir Werbeanzeigen Aufmerksamkeit schenken – oder besser noch darauf klicken – erhalten Werbetreibende eine Rendite für ihr Investment. Aus diesem Grund besteht für Plattformen ein Anreiz, ihre Plattformen für ein hohes Nutzerengagement zu optimieren, detaillierte Daten über das Nutzerverhalten zu sammeln und diese ihren Kunden zur Verfügung zu stellen. Diese Datencluster bestehen aus Menschen, die in einer bestimmten Gegend leben, ein bestimmtes Hobby haben oder sogar ähnliche, tief verankerte Ängste haben. Das ist kein Geheimnis, und Nutzer willigen in diese Bedingungen ein – in der Regel, ohne sich der Risiken wirklich bewusst zu sein.

Der ultimative Euphemismus

Engagementorientierung klingt auf den ersten Blick wunderbar. Es impliziert relevante und unterhaltsame Inhalte, die auf deinen Geschmack zugeschnitten sind. Aber was lässt uns eigentlich ‘engagen’? Im Kern geht es darum, was Aufmerksamkeit bedeutet und warum wir sie einer Sache schenken. Aufmerksamkeit als Fähigkeit zur selektiven Informationsverarbeitung sowie “Geistesgegenwart” (Franck, 2019) ist im Wesentlichen ein evolutionsbedingter Mechanismus zur Einsparung unserer kostbaren Energie. Daneben und deshalb ist sie ein tief verwurzeltes Mittel zum Überleben, das uns dazu bringt, uns auf Bedrohungen zu konzentrieren (Davenport & Beck, 2001): Diejenigen, die unbeirrt die Blume vor sich bewunderten, während ein Löwe sich seinem leichten Abendessen näherte, haben ihre Gene schließlich nicht weitergegeben. Was unsere Aufmerksamkeit also am stärksten erregt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach angsterregend, extrem, neu, bedrohlich oder laut. Überlege sorgfältig, wie sich dies auf Online-Inhalte auswirken kann.

Fühl dich frei, dich selbst zu informieren

Du fragst dich vielleicht: Warum sind wir vor solchen Praktiken nicht rechtlich geschützt? Wir als Nutzer*innen entscheiden uns bewusst dagegen – viele von uns jeden Tag aufs Neue. Eine Einwilligung im Sinne der EU-Datenschutzgesetze muss informiert und freiwillig sein. Angeblich werden wir durch seitenlange Datenschutzerklärungen aufgeklärt, bevor wir einen digitalen Dienst nutzen. Doch diese systematische Informationsüberflutung informiert uns nicht im eigentlichen Sinne der Norm und vermittelt so ein falsches Gefühl von Rechtmäßigkeit (Poursabzi-Sangdeh et al., 2021). Der Begriff “Cookie” ist eine schöne Metapher für eine Handlung, der man nicht widerstehen kann, obwohl man sich ihrer potenziell negativen Folgen einigermaßen bewusst ist. Wie freiwillig stimmen wir der Verarbeitung unserer Daten angesichts des “energieeffizienten” Zustands unseres Gehirns zu, während wir unbekümmert durch engagementorientierte Feeds scrollen? Anbieter digitaler Dienste nutzen häufig “Dark-Design-Patterns” (Weinzierl, 2020) wie Farbkontraste und persuasive Sprache (Martini, 2022; Ruschemeier, 2020), mit dem Ziel, unsere faulen Gehirne zur einfachen Opt-i(o)n zu verleiten.

Einwilligung ohne Einigkeit

Trotz all dem klingt es fair, seine privaten Rechtsbeziehungen frei und unabhängig gestalten zu können – und ist im Grunde auch das, was das deutsche Recht mit seiner verfassungsrechtlich geschützten “informationellen Selbstbestimmung” meint (Rüthers & Stadler, 2014). Aber ist das wirklich fair? Für die wirksame Erteilung einer Einwilligung verlangt die DSGVO, dass das Machtverhältnis zwischen den Parteien nicht eindeutig unausgewogen ist (Stemmer, 2022). In einer Gesellschaft, die sozial und beruflich in hohem Maße von sozialen Netzwerken abhängig ist, könnten Zweifel daran aufkommen. Kein Gesetz schreibt vor, dass man ein Bankkonto haben muss, aber zur Teilhabe an einer modernen Gesellschaft ist man gezwungen, eines zu haben. Soziale Faktoren wie die “fear of missing out” (Wildt, 2015), die in einem tiefen Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen begründet ist und zu Konformität führt, scheinen nicht Teil der Erwägungen des Gesetzgebers zu sein. Auch Social-Media-Sucht ist keine neue Erkenntnis (Alter, 2017; Fogg, 2003). Man suche einfach nach “intermittent variable reinforcement” und überlege, ob sich dieser Effekt im Zusammenhang mit der eigenen täglichen Nutzung von Plattformen irgendwie unheimlich anfühlt. Die Krux einer Sucht – egal wie ausgeprägt sie ist – liegt in unfreiwilligen Verhaltensmustern, unabhängig davon, ob man über Risiken informiert ist.

Die Qual der Wahl

Keine Entscheidung ist frei von äußeren Einflüssen. Doch kaum eine Entscheidung wird derart von nicht nur gewinnorientierten Akteur*innen, sondern auch unserer eigenen fehlbaren Natur beeinflusst, wie die Entscheidung, Plattformen zu nutzen oder nicht zu nutzen und Cookies zu akzeptieren oder abzulehnen. Gesetzgebende sollten sich fragen, ob eine nahezu konditionierte Klick-Reaktion auf diensteunterbrechende Pop-ups wirklich den unerschütterlichen Grundrechtsschutz darstellt, für den sie sie ausgeben. Art. 8 II 1 der Charta der Grundrechte hat sich durch die DSGVO – die nicht in der Lage ist, der Anreizstruktur des werbebasierten Geschäftsmodells etwas entgegenzusetzen – in einem verhaltensökonomischen Marktversagen manifestiert. Um dieses “race to the bottom of the brain stem” zu beenden, braucht es einen Paradigmenwechsel in der EU-Gesetzgebung (Weinzierl, 2020), weg vom homo oeconomicus hin zu einem humaneren –  und realistischeren – homo empathicus.

References

Alter, A. (2017). Irresistible – The Rise of Addictive Technology and the Business of Keeping Us Hooked. Penguin Press, New York.

Davenport, T. H., and Beck, J. C. (2001). The Attention Economy. Harvard School Press, Boston.

Fogg, B. J. (2003). Persuasive Technology – Using Computers to Change What We Think and Do. Morgan Kaufmann Publishers, San Francisco.

Frank, G. (2019). Ökonomie der Aufmerksamkeit. 12th ed., Carl Hanser Verlag, Munich.

Martini, M. (2022). Art. 25 GDPR, Rn. 46a in Eds. Wolff, A., and Brink, S., BeckOK Datenschutzrecht, 40th ed., C. H. Beck Verlag, Munich.

Poursabzi-Sangdeh, F. et al. (2021). Manipulating and Measuring Model Interpretability. Cornell University, arXiv:1802.07810v5 [cs:ai].

Ruschemeier, H. (2020). 9. Speyerer Forum zur digitalen Lebenswelt: Regulierung Künstlicher Intelligenz in der Europäischen Union zwischen Recht und Ethik. NVwZ 2020, p. 447.

Rüthers, B., and Stadler, A. (2014). Allgemeiner Teil des BGB. 18th ed., C. H. Beck Verlag, Munich.

Stemmer, B. (2022). Art. 7 GDPR in Eds. Wolff, A., and Brink, S., BeckOK Datenschutzrecht, 40th ed., C. H. Beck Verlag, Munich.

Weinzierl, Q. (2020). Dark Patterns als Herausforderung des Rechts. NVwZ 2020, p. 1087.

Wildt, B. T. (2015). Digital Junkies – Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. Droemer Verlag, Munich.

Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

Daniel Pothmann

Projektmitarbeiter: Wissenstransfer | Public Interest AI

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