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Chancen gegen Einsamkeit: Wie Pflegeeinrichtungen das Quartier vernetzen
Die Gesellschaft wird immer älter. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen dieses demografischen Wandels und der steigenden Anzahl älterer Menschen braucht es neue Ideen für die Gestaltung guter, lebenswerter Lebensumgebungen und Nachbarschaften. Besonders das Thema Einsamkeit gewinnt dabei an Relevanz. Immer mehr Einrichtungen entwickeln daher innovative Angebote, um soziale und digitale Teilhabe zu stärken und sich als offene, vernetzte Orte im Quartier zu positionieren.
Pflegeeinrichtungen im Wandel
Viele ältere Menschen können Angebote vor Ort, zum Beispiel Spielenachmittage oder Treffpunkte in der Nachbarschaft, nicht mehr nutzen. Gründe dafür sind eingeschränkte Mobilität, Krankheit oder schlechtes Wetter. Besonders während der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie schnell solche sozialen Angebote wegbrechen können. Vereinshäuser blieben geschlossen, Begegnungen fanden kaum noch statt. Die Folge: Einsamkeit nimmt zu.
Pflegeeinrichtungen stehen deshalb vor neuen Aufgaben: Es geht nicht mehr nur um Pflege im klassischen Sinn, sondern auch um die Frage, wie ältere Menschen erreicht werden können, die allein leben oder kaum noch das Haus verlassen. Einige Trägerorganisationen setzen bereits konkrete Maßnahmen um, um der Herausforderung der Einsamkeit im Quartier entgegenzuwirken. Sie bieten neben Präsenzangeboten auch Angebote für den Erwerb digitaler Kompetenzen an oder starten Pilotprojekte, beispielsweise Schulungen im Umgang mit Tablets und Online-Inhalten, die speziell auf ältere Menschen zugeschnitten sind (vgl. Deutsches Institut für Sozialwirtschaft e.V., 2022).
Die Rolle einiger Pflegeeinrichtungen verändert sich damit grundlegend. Obwohl die personellen und finanziellen Ressourcen knapp sind, machen sich Pflegeträger Gedanken, welche Rolle sie selbst unter den neuen Voraussetzungen einnehmen und digitale Teilhabe fördern können. Sie sind längst nicht mehr nur Orte für pflegebedürftige Menschen, sondern könnten sich zunehmend zu Orten der Gemeinschaft, sogenannten Dritten Orten, entwickeln, die für das gesamte Quartier und seine Menschen unterschiedlichen Alters zugänglich sind.
Was sind Dritte Orte?
Geprägt hat den Begriff der ‘Dritten Orte’ der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg. Er beschrieb 1989, wie in modernen Gesellschaften wichtige soziale Treffpunkte verschwinden, weil das Leben sich immer mehr auf Zuhause (erster Raum) und die Arbeitsstätte (zweiter Raum) konzentriert. Er plädierte daher für die Rückgewinnung gemeinschaftsfördernder Orte, sogenannte Dritter Orte. Das sind öffentliche oder halböffentliche Räume, in denen sich Menschen unabhängig von Herkunft, Alter oder sozialem Status begegnen können, etwa Cafés, Buchhandlungen, Friseursalons oder Bibliotheken. Oldenburg sah in ihnen einen zentralen Baustein für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Lebensqualität, weil sie Gelegenheiten für spontane Begegnungen, Gespräche und gemeinschaftliche Erlebnisse bieten (vgl. Oldenburg, 1999). Laut Körber-Stiftung (2024) ist die Definition heute noch breiter: „Dritte Orte sind Räume oder Plätze, die möglichst viele Menschen zusammenbringen, Austausch ermöglichen, ohne Konsumzwang. Es sind Begegnungsorte für eine vielfältige Gesellschaft“. Dabei geht es nicht nur um klassische Orte wie Cafés oder Bibliotheken, sondern auch um neue Formate: Nachbarschaftszentren, Kulturhäuser oder gemeinschaftlich genutzte Räume in ländlichen Regionen oder Pflegeeinrichtungen, die sich phasenweise für die Nachbarschaft öffnen. Pflegeeinrichtungen werden damit zunehmend als Teil einer sozialen Infrastruktur verstanden, die Zugehörigkeit, Dialog und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Gegen Einsamkeit und für digitale Teilhabe im Alter
Es gibt solche Begegnungsstätten bereits. Sie werden unterstützt durch niedrigschwellige Angebote aus der Nachbarschaft und durch ehrenamtliches Engagement. Sie fungieren als Dritte Orte, die gezielt Einsamkeit bekämpfen und gesellschaftliche Teilhabe im Alter stärken. Im Projekt Gegen Einsamkeit und für digitale Teilhabe im Alter (GETA International) beispielsweise haben wir mit einigen Akteuren in den neuen hybriden Begegnungszentren gesprochen: „Wir sind ein klassisches diakonisches Werk, ein kleiner Konsum. Sämtliche Angebote, die man sich vorstellen kann!“, beschreibt die Leiterin einer Pflegeeinrichtung aus Cottbus die Vielfalt der bestehenden und geplanten Angebote im Quartier. Viele Einrichtungen haben sich in diese Richtung bewegt und regelmäßige Treffen, Lerncafés und Tee-Nachmittage eingerichtet bzw. ausgebaut, um den Austausch unter Bewohner*innen, aber auch potenziellen künftigen Bewohner*innen sowie Angehörigen und Nachbar*innen zu fördern. Die Nachfrage aus dem Quartier nach diesen Angeboten ist da: „Teilweise fragt die ganze Familie an. (…) Wir werden als Experten angesehen. Wir machen das im Rahmen der Angehörigenarbeit”, erzählt eine Vertreterin eines großen Pflegeträgers aus Stuttgart. Ihre Pflegeeinrichtung entwickelt sich zunehmend zu einem Knotenpunkt im Quartier – als Anlaufstelle im Alltag, als Ort des Vertrauens und als Kompetenzzentren weit über die klassische Pflege hinaus.
Digitale Brücken zwischen Berlin und Kalifornien
Das Thema Einsamkeit wird nicht nur unter älter werdenden Menschen, sondern auch bei jüngeren Generationen zunehmend zum Problem. Studien zeigen: Einsamkeit betrifft unterschiedliche Generationen und Geschlechter auf verschiedene Weise. Während ältere Frauen ab 70 Jahren und Männer im Alter zwischen 40 und 60 Jahren besonders stark betroffen sind, zeigen Studien auch einen besorgniserregenden Anstieg der Einsamkeit unter jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 29 Jahren. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass es in Zukunft einen noch größeren Bedarf geben wird, Einsamkeit generationsübergreifend gezielt zu bekämpfen. Der demografische Wandel, geprägt von einem Geburtenrückgang und einer zunehmenden Zahl hochbetagter Menschen (85+) bis zum Jahr 2030, lässt darauf schließen, dass Einsamkeit auch unter älteren Menschen weiter zunehmen könnte (vgl. Kaspar et al., 2022; vgl. Huxhold & Engstler, 2019).
Den steigenden Bedarf an Hilfe und Unterstützungsleistungen kann eine Pflegeeinrichtung, beispielsweise über eine besetzte Rezeption, nicht auffangen. Viele Einrichtungen verfügen jedoch über Räume, die sich für offene Quartiersangebote nutzen lassen. So könnten Anlaufstellen entstehen, die digitale und analoge Angebote verknüpfen, vernetzen und das soziale Miteinander fördern. Ein Mix aus digitalen und analogen Angeboten sorgt dafür, dass Menschen soziale Kontakte pflegen können. Auch wenn sie beispielsweise witterungsbedingt nicht das Haus verlassen oder phasenweise nicht mobil sind.
Die Achte Altersberichtskommission (2020) hebt hervor, dass digitale Technologien das Potenzial haben, das Leben älterer Menschen zu verbessern, insbesondere wenn sie dazu beitragen, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten, zum Beispiel zu Angehörigen oder Pflegekräften. „Im günstigsten Fall können digitale Technologien (z.B. in Form von Sprachassistenten) bestehende Kommunikationsmöglichkeiten erheblich erweitern und auf diese Weise dazu beitragen, Einsamkeit zu überwinden“. Die Vermittlung digitaler Kompetenzen spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Einige Pflegeeinrichtungen setzen auf innovative Ansätze, um digitale Kompetenzen zu fördern und damit soziale Teilhabe zu ermöglichen. „Wir werden kein Elon Musk Satelliten-Heim werden, aber irgendwie ein bisschen den Umgang mit Kommunikationstechnik reinbringen,“ so die Einschätzung eines Einrichtungsleiters. Wichtig ist jedoch, dass die digitalen Technologien nicht wiederum ihrerseits zur Verstärkung von Einsamkeitsgefühlen führen. Eine feste Anbindung an Pflegeeinrichtungen sowie der persönliche Kontakt zu Bezugspersonen sind daher auch weiterhin dringend notwendig, da sie unterstützend wirken.
Was ist GETA International?
Auch in Deutschland engagieren sich Unternehmen und Start-ups dafür, die Lebensbedingungen und die Gesundheit älterer Menschen durch den Einsatz digitaler Technologien nachhaltig zu verbessern.
Das Projekt GETA International identifiziert diese Unternehmen und baut ein Lern- und Entwicklungsnetzwerk zwischen Akteuren der Sozial-, Gesundheits- und Technologiewirtschaft im Großraum Berlin und Unternehmen aus Kalifornien auf. Dieses Netzwerk ermöglicht einen strukturierten und kontinuierlichen Austausch zwischen beiden Regionen, um die Lebenssituation älterer Menschen durch innovative digitale Lösungen zu verbessern. Im Rahmen von GETA International erhalten die beteiligten Unternehmen und Institutionen schnellen Zugang zu validierten Innovationen, fachlicher Expertise, Best-Practice-Beispielen und Evaluationsergebnissen aus der jeweils anderen Region. Dieser grenzüberschreitende Wissens- und Erfahrungstransfer fördert die gemeinsame, internationale und interdisziplinäre Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Gleichzeitig werden so neue Impulse für die Internationalisierung gesetzt und das Expansionspotenzial Berliner Unternehmen deutlich gestärkt. GETA International ist Teil des Programms zur Internationalisierung (PfI-NETZ), das von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe (SENWiEnBe) mit Mitteln der Europäischen Union gefördert wird. Es ist zudem Bestandteil der Berliner Initiative Berlin goes International, mit der die Hauptstadt gezielt ihre internationale Sichtbarkeit und Attraktivität für Gründer*innen aus aller Welt steigern möchte.
Das Quartier vernetzen, aber wie?
Im besten Falle – das zeigen auch die Vorreiter aus den USA – arbeiten Sozialwirtschaft, Technologieunternehmen und weitere Unterstützer wie zum Beispiel Forschungseinrichtungen wie CITRIS Health oder andere zivilgesellschaftliche Initiativen Hand in Hand. Ein Pilotprojekt im Landkreis Märkisch-Oderland, co-initiiert durch GETA International, zeigt, wie solche Kooperationen in der Praxis umgesetzt werden können. Ein Pflegeträger hat es dort geschafft, mit großem Projektvolumen aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), die Einsamkeit im Alter im Landkreis anzugehen. “Wir mussten die Leute rausbekommen aus der Häuslichkeit, das ist das Problem“ so die Leiterin des Einsamkeitsprojekts. Geschafft haben sie es in Märkisch-Oderland durch kontinuierliche Angebote vor Ort im Nachbarschaftstreff. Neben den Sport- und Kulturangeboten gibt es dort ausreichend Pausen für Gespräche bei einer Tasse Tee oder Kaffee. „Alle werden wir nicht erreichen, das tut auch weh. (…) Die Hemmschwelle ist teilweise sehr groß, gerade bei Senioren“. Das Projekt stellt Tablets für ältere Menschen bereit, die von Einsamkeit betroffen sind oder immobil, so dass sie keine Vor-Ort-Angebote der Pflegeeinrichtung wahrnehmen können. Die Inhalte auf dem Tablet werden von Active at Home aus Berlin bereitgestellt. Active at Home hat sich darauf spezialisiert, Senior*innen Programme zu bieten, die Kultur, Bewegung und soziale Interaktionen fördern. Währenddessen hat Televisit, eine Non-Profit-Organisation aus den USA, eine intuitive Plattform entwickelt, um Senior*innen eine einfache Teilnahme an Online-Kursen und Gesprächsrunden zu ermöglichen, auch wenn diese keine digitalen Vorkenntnisse haben. Das intuitive System senkt die Einstiegshürden erheblich.
Televisit bietet eine einfach zu bedienende App, die auf einem Tablet installiert ist und sich ausschließlich auf eine Funktion konzentriert – sie „ruft an”, sobald eine Veranstaltung beginnt. Das Tablet klingelt dann wie ein Telefon. Die Nutzer*innen haben die Wahl: den Anruf annehmen („Ich bin dabei!“) oder ablehnen („Ich bin nicht dabei!“). Das gemeinsame Ziel von Televisit und dem Projekt Active at Home ist es, alleinlebende Senior*innen, die sich an der Schwelle zur Pflegebedürftigkeit befinden, besser zu erreichen und ihnen unkomplizierten Zugang zu sozialen Angeboten zu ermöglichen. Damit sollen nicht nur Einsamkeit reduziert, sondern auch die physische und psychische Gesundheit gestärkt werden. Das Projekt, das im Juni 2024 gestartet ist, befindet sich derzeit in einer Pilotphase. In dieser Phase sollen die Bedürfnisse der Zielgruppe sowie deren Anforderungen besser verstanden werden.
Doch die Umsetzung solcher Projekte und die erweiterte Rolle von Pflegeeinrichtungen in ihrer Anbindung an die Nachbarschaft stößt häufig an finanzielle Grenzen. Die zusätzlichen Aufgaben, etwa als Lernort für digitale Kompetenzen, erfordern Ressourcen, die über die klassische Pflegefinanzierung hinausgehen. „Wir können uns keinen Menschen leisten oder keine Stelle schaffen. In der Gemeinnützigkeit sind wir fast vollständig von geförderten Bereichen abhängig“, beschreibt die Leiterin einer Pflegeeinrichtung in Cottbus die angespannte Lage. Um dennoch neue Angebote zu realisieren, suchen viele Einrichtungen nach kreativen Finanzierungsmodellen – zum Beispiel durch neue Partnerschaften mit Dienstleistern und Hochschulen.
Die Bekämpfung von Einsamkeit erfordert innovative Ansätze, die soziale Nähe und digitale Teilhabe verbinden. Projekte wie GETA International, engagierte Pflegeeinrichtungen und technologieaffine Unternehmen zeigen, wie tragfähige Lösungen durch Kooperation entstehen können. In solchen Quartieren wird das digitale Miteinander zur gelebten Realität – generationenübergreifend, lokal verankert und international vernetzt. Es braucht gemeinsame Anstrengungen, partnerschaftliche Strukturen und eine unterstützende Infrastruktur. Denn nur miteinander – analog wie digital – kann ein starkes Netz entstehen, das niemanden zurücklässt.
Referenzen
- Deutsches Institut für Sozialwirtschaft e.V. (2022, 30. November). 50 Millionen Euro gegen Einsamkeit. www.seniorenpolitik-aktuell.de. https://www.seniorenpolitik-aktuell.de/50-millionen-euro-gegen-einsamkeit/
- Die Achte Altersberichtskommission. (2020). Achter Altersbericht: Ältere Menschen und Digitalisierung. In Deutsches Zentrum für Altersfragen (Bd. 19/21650) [Report]. https://www.achter-altersbericht.de/fileadmin/altersbericht/pdf/aktive_PDF_Altersbericht_DT-Drucksache.pdf
- Huxhold, O. & Engstler, H. (2019). Soziale Isolation und Einsamkeit bei Frauen und Männern im Verlauf der zweiten Lebenshälfte. In Springer eBooks (S. 71–89). https://doi.org/10.1007/978-3-658-25079-9_5
- Kaspar, R., Wenner, J., & Tesch-Römer, C. (2022). Einsamkeit in der Hochaltrigkeit. (D80+ Kurzberichte, 4). Köln: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Universität zu Köln, Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres); Deutsches Zentrum für Altersfragen. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-77004-2
- Körber-Stiftung. (2024). Ein Haus für die Gemeinschaft. https://koerber-stiftung.de/projekte/begegnungsorte/ein-haus-fuer-die-gemeinschaft/
- Oldenburg, R. (1999). The great good place. Cafes, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community. Marlowe & Company.
Dieser Beitrag spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren und weder notwendigerweise noch ausschließlich die Meinung des Institutes wider. Für mehr Informationen zu den Inhalten dieser Beiträge und den assoziierten Forschungsprojekten kontaktieren Sie bitte info@hiig.de

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