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22 September 2015

Jurisprudence in the Age of the Internet

The Internet challenges different conventions of scientific work. However, these conventions remain strong, even though they lose their purpose more and more. Therefore, adaptions are needed.

Das Internet bietet der Wissenschaft heute zweifelsohne Möglichkeiten der Recherche, der personellen und institutionellen Vernetzung und der Wissensbündelung in bisher ungekanntem Maße. Und doch wirft es im Zuge der alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit ganz praktische Fragen auf, die sich vermutlich mehr oder weniger jede_r Wissenschaftler_in irgendwann einmal stellt, nach meiner Erfahrung aber selten eine entsprechende Diskussion anstößt. Ich möchte drei Beispiele geben, die mich jedenfalls in meiner Disziplin, der Rechtswissenschaft, besonders umtreiben:

  1. Die Bewältigung der immensen, für das eigene Thema bestehenden Informationsflut
  2. Die Redlichkeit von Online-Quellen
  3. Die Anforderungen an das ordnungsgemäße wissenschaftliche Zitat

1. Die Informationsflut

Wir sehen uns heute einer immensen Informationsflut ausgesetzt, die der und die Einzelne, etwa im Rahmen einer Dissertationsschrift, zu bewältigen nicht mehr in der Lage ist. Dabei ist durchaus offen, wo die Gründe für diese Flut liegen. Sicher war das “In-den-Griff-Kriegen” der zum eigenen Thema bereits bestehenden wissenschaftlichen Literatur schon immer eine Herausforderung. Die äußerst transparenten Recherchemöglichkeiten, die uns das Netz heute gibt, machen die Informationsflut jedenfalls aber noch viel sichtbarer als die frühere Recherche in einigen ausgewählten Bibliothekskatalogen und über die weiterführenden Verweise der so aufgefundenen Literatur und Rechtsprechung. Hinzu kommen zahlreiche zusätzliche Möglichkeiten der Online-Publikation, die es früher nicht gab, und die die publizistische Tätigkeit wiederum selbst weiter anregen. Aus der Perspektive des Ziels des Erkenntnisgewinns erweist sich dies als Segen, aus der praktischen Perspektive des und der am Erkenntnisgewinn arbeitenden Wissenschaftler_in ist es zugleich auch ein Fluch: Er und sie müssen selektieren, Vorgaben hierfür fehlen aber weitgehend. Dabei geht es nicht etwa darum, Quellen als gut oder schlecht zu bewerten und dementsprechend in der eigenen Arbeit zu zitieren oder nicht, sondern vielmehr um die Frage, was angesichts der Publikationsflut überhaupt gelesen werden sollte, weil die schiere Masse an veröffentlichen Arbeiten durch Einzelne zum Teil gar nicht mehr gelingen kann. Ein Beispiel aus der Rechtswissenschaft ist etwa das Thema grundrechtliche Schutzpflichten. Hierzu wird seit Jahrzehnten Unmengen an Literatur publiziert, die das Thema im Schwerpunkt oder zumindest als Einzelaspekt in anderen Zusammenhängen bearbeiten, hinzu kommen unzählige Urteile verschiedenster Verfassungsgerichte allein in Europa, etc.

Es liegt nahe, sich auf die Berücksichtigung von Autor_innen mit entsprechender wissenschaftlicher “Autorität” zu beschränken. In der Rechtswissenschaft sind das etwa namhafte Professor_innen, im öffentlich-rechtlichen Kontext nicht zuletzt aktuelle und ehemalige Richter_innen des Bundesverfassungsgerichts. Dient dies aber letztlich wirklich dem Erkenntnisgewinn, oder produziert dieses Vorgehen nicht vielmehr zu Privilegien und Ausschlüssen, die Erkenntnis verhindern?

2. Die Redlichkeit von Online-Quellen

Die Informationsflut wird nicht zuletzt auch durch Online-Quellen als neue Ressource wissenschaftlichen Arbeitens erhöht. An erster Stelle ist hier natürlich Wikipedia zu nennen. Nach wie vor gilt es bei nicht wenigen Professor_innen und sonstigen Wissenschaftler_innen als verpönt, Wikipedia als Quelle für die eigene Arbeit anzugeben. Dabei ist diese kategorische Ablehnung absurd, erfolgt doch heute – so jedenfalls meine auf Nahbereichsempirie begründete These – nahezu jeder Erstzugriff zur Verschaffung eines Überblicks über das zu bearbeitende Thema über Wikipedia. Diese kategorische Ablehnung beruht auf einem antiquierten Verständnis jedenfalls dieser Plattform, dass “Hinz und Kunz” dort einstellen könne, was er oder sie wolle. Tatsächlich aber warnt Wikipedia selbst vor Beiträgen, die es für nicht ausreichend qualifiziert hält, und fordert seine Nutzer_innen zur Mitarbeit und Qualitätsverbesserung an dem betroffenen Artikel auf. So profitiert Wikipedia gerade von der Intelligenz, oder besser vom Wissen der Masse. Die hauseigene Qualitätskontrolle von Wikipedia kann man wie das Wissen der Massen selbstverständlich in Frage stellen, nicht zuletzt umso mehr, je spezifischer das entsprechende Thema ist und je mehr Fachkenntnis es erfordert. Dennoch stellt Wikipedia doch zumindest für den Erstzugriff auf ein Thema eine fundierte Quelle dar. Wieso sollte ich auf einen sich als inhaltlich zitierfähigen Gedanken in der eigenen Arbeit nicht verweisen dürfen, nur weil er auf Wikipedia mitgeteilt wird?

In abgeschwächter Form existiert das Problem auch mit Blick auf sonstige Online-Quellen. Genannt seien hier nur etwa Blogposts. In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von Blogs aufgekommen, auf denen immer mehr und qualitativ immer hochwertiger aktuelle rechtswissenschaftliche Fragen diskutiert werden. Dennoch findet man Zitate aus solchen Blogs weiterhin kaum in klassischen wissenschaftlichen Arbeiten, etwa Aufsätzen oder Monografien. Dabei werden gerade in diesen Blogs aktuelle Fragen, die für die Rechtswissenschaft von Interesse sind, teilweise innerhalb weniger Tage oder Wochen durch Beiträge und Erwiderungen nahezu ausdiskutiert, während sie sich früher teils über Monate in Form rechtswissenschaftlicher Aufsätze in Zeitschriften hingezogen haben, wobei sie freilich eine viel geringere Dynamik entfalten konnten. Diese Blogdebatten ersetzen zum Teil bereits weitgehend entsprechende frühere Debatten etwa in Fachzeitschriften.

Damit stellt sich auch die Frage, ob der und die Wissenschaftler_in einen eigenen entwickelten Gedanken eher in Form eines Blogposts oder eines wissenschaftlichen Aufsatzes, einer Urteilsanmerkung o.Ä. verfassen sollte. Denn es herrscht Unklarheit darüber, inwieweit “bloße” Blogposts das wissenschaftliche Renommé erhöhen können, inwieweit sie folglich in Publikationslisten angegeben werden können und sollen. Von einigen werden sie belächelt, von anderen ernst genommen. Geht es darum, seine wissenschaftliche Kompetenz über den Lebenslauf, etwa für die Bewerbung auf einen Lehrstuhl oder auch nur eine Stelle zur wissenschaftlichen Mitarbeit, darzulegen, wird diese Frage deshalb wichtig. Gerade in der doch eher konservativ strukturierten Rechtswissenschaft, die dem Publikationsmedium Internet vielleicht reservierter gegenübersteht als andere Disziplinen, ist sie nicht zu unterschätzen.

3. Die Anforderungen an das wissenschaftliche Zitat

Ein drittes Problem betrifft die Formalien der wissenschaftlichen Arbeit. Verwende ich Online-Quellen, stellt sich die ganz praktische Frage nach der Zitierung. Jedenfalls in der Rechtswissenschaft ist dazu eine Fußnote mit der kompletten URL der Quelle anzugeben. Ziel des Ganzen ist es, den Leser_innen das Auffinden der Quelle durch das Eintippen in den Browser möglichst einfach zu machen. Oft erstreckt sich diese URL aber über drei oder mehr volle Zeilen, sie besteht aus einer Vielzahl von Sondersymbolen und kryptischen Buchstaben- und Zahlenfolgen. Steht die gelesene Arbeit nur in gedruckter Form zur Verfügung, wird das dadurch notwendig werdende manuelle Eintippen der URL zum Auffinden der Quelle regelmäßig zur Farce. Üblicherweise wird man deshalb einfach den Titel der Quelle, bestimmte zitierte Ausschnitte aus ihr, den oder die Autor_in o.Ä. googlen und die Quelle so wesentlich einfacher auffinden können. Es ist deshalb zu überlegen, wie sinnvoll die Angabe jeder noch so langen URL wirklich ist, oder ob nicht etwa die Angabe zweier oder dreier Suchbegriffe und der zu verwendenden Suchmaschine sinnvoller ist, um den Leser_innen zu helfen. Freilich stellt sich hier das Problem, inwiefern etwa Google in drei Jahren bei Verwendung der angegebenen Begriffe immernoch die selben Ergebnisse liefert. Hier müssen also verlässliche Lösungen gefunden werden. Im Prinzip sind diese Lösungen aber auch in Gänze entbehrlich, denn sicher ist den heutigen Leser_innen zuzutrauen, allein durch Angabe des oder der Autor_in und des Titels bzw. der Überschrift der Quelle diese mit Hilfe welcher Suchmaschine auch immer aufzufinden.

Gerade in der Rechtswissenschaft ergibt sich hier noch ein weiteres Problem: das ordnungsgemäße Zitieren von Gerichtsentscheidungen. Nach wie vor besteht die Konvention, Entscheidungen durch Angabe der konkreten Fundstelle in der gedruckten, amtlichen Sammlung des jeweiligen Gerichts anzugeben, wenn es solche Sammlungen gibt. Dies gilt sogar, obwohl die Entscheidungen mittlerweile parallel auf den offiziellen Webseiten des Gerichts selbst veröffentlicht und dort innerhalb weniger Sekunden problemlos von jedem Rechner aus abrufbar sind. Das Bundesverfassungsgericht stellt immerhin sämtliche Entscheidungen seit 1998 online zur Verfügung, Entscheidungen etwa des EuGH sind allesamt online verfügbar. Heutzutage nimmt niemand mehr die Mühen in Kauf, sich die Bände der gedruckten Sammlungen zur Hand zu nehmen und die Entscheidungen dort zu lesen, jeder greift online auf sie zu – zumal es sich mit einem elektronischen Dokument auch viel einfacher arbeiten lässt: Es kann etwa nach bestimmten Stichworten, Phrasen etc. in kürzester Zeit durchsucht werden. Dennoch sind die Fundstellen in den offiziellen Sammlungen anzugeben; tatsächlich würde die Angabe des Gerichts, des Aktenzeichens, gegebenenfalls des Namens, unter dem die Entscheidung bekannt wurde, genügen.

Fazit

Insgesamt zeigen die Beipiele doch, dass das Internet als neues Medium sowohl inhalts- als auch formbezogene Konventionen des wissenschaftlichen Arbeitens in Frage stellt. Diese – und sicher viele weitere, hier nicht genannte Aspekte – sollten stärker thematisiert werden. Die Aufgabe der einen oder anderen Konvention würde die Effizienz des wissenschaftlichen Arbeitens erhöhen und gegebenenfalls seine inhaltliche Seite stärken. Durch einfache, dem Medium angemessenere Zitationsformen etwa wird Zeit gespart, die die Autor_innen stattdessen in die Bewältigung der Informationsflut investieren könnten. Letztlich erhöht dies die Qualität der Arbeit. Es geht hier also nicht (nur) um Lästigkeiten, sondern tatsächlich auch um die Frage der Qualität des Ertrags.

Photo: User:rh2ox / FlickrCC BY-SA 2.0

This post is part of a weekly series of articles by doctoral canditates of the Alexander von Humboldt Institute for Internet and Society. It does not necessarily represent the view of the Institute itself. For more information about the topics of these articles and asssociated research projects, please contact info@hiig.de.

Sebastian Leuschner, Dr.

Ehem. Assoziierter Doktorand: Globaler Konstitutionalismus und das Internet

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